Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Alles halb so schlimm? Warum eine sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet

No Big Deal? Why a Lower Voter Turnout is Bad for Democracy

Autoren
Schäfer, Armin
Abteilungen

Institutioneller Wandel im gegenwärtigen Kapitalismus (Prof. Dr. Wolfgang Streeck)
MPI für Gesellschaftsforschung, Köln

Zusammenfassung
Wie in vielen etablierten Demokratien sinkt auch in Deutschland die Wahlbeteiligung, während alternative Formen politischer Teilhabe zunehmen. Gemeinsam schaden beide Trends dem demokratischen Ideal politischer Gleichheit, weil Wahlen weniger als andere Arten politischen Engagements sozial verzerrt sind.
Summary
Voter turnout in Germany is decreasing as it is in many established democracies. At the same time other modes of participation in politics are increasing. This combination is detrimental to the democratic ideal of political equality because elections are less socially skewed than other types of political participation.

In schöner Regelmäßigkeit lösen Wahlen in Deutschland eine Debatte über die sinkende Wahlbeteiligung aus. Bei solchen Gelegenheiten wird bezweifelt, dass eine Koalition beanspruchen kann, die Wähler insgesamt zu repräsentieren, die sich wie beispielsweise in Hessen auf die Stimmen von weniger als einem Drittel der Wahlberechtigten stützt. Sinkt die Wahlbeteiligung unter fünfzig Prozent, repräsentiert selbst ein einstimmiger Parlamentsbeschluss nicht mehr eine Mehrheit der Wahlberechtigten. Eine derart geringe Wählermobilisierung ist bei Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt bereits vorgekommen und bei Kommunalwahlen keine Seltenheit mehr. Doch die an Wahlabenden aufflammende Erregung über die grassierende Wahlmüdigkeit erlischt ebenso regelmäßig binnen kürzester Zeit.

Der Rückgang der Wahlbeteiligung hätte allerdings mehr Aufmerksamkeit verdient, handelt es sich doch um einen seit mehr als zwei Jahrzehnten anhaltenden, konsistenten Trend. Noch nie haben so wenige Bürger ihr Recht zu wählen genutzt wie heute. Abbildung 1 zeigt, dass die Wahlbeteiligung in den Siebzigerjahren ihren Höhepunkt erreichte. Bei Bundestagswahlen lag sie bei über neunzig Prozent. Seitdem ist die Wahlbeteiligung in jedem Jahrzehnt und bei allen Wahlarten gesunken. Zwar fällt der Rückgang bei den Bundestagswahlen moderat aus, doch bei allen anderen Wahlen ist die Beteiligung in den letzten drei Jahrzehnten eingebrochen.

Gibt eine niedrige Wahlbeteiligung Anlass zur Sorge?

Ob und ab welchem Schwellenwert eine niedrige Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, ist in der politikwissenschaftlichen Fachliteratur umstritten. Häufig wird argumentiert, dass sich in diesen Veränderungen weniger eine Krise als ein Wandel der Demokratie ausdrückt. Drei Thesen stehen im Vordergrund:

(1) Die Normalisierungsthese: Im internationalen Vergleich liegt die deutsche Wahlbeteiligung (bei Bundestagswahlen) noch immer im oberen Drittel. Eine im Vergleich zu den Siebzigerjahren niedrigere Wahlbeteiligung stellt eine Normalisierung und kein Krisensymptom der Demokratie dar.

(2) Die Zufriedenheitsthese: Bürger verzichten auf die Stimmabgabe, weil sie mit der Politik der Regierung einverstanden und mit der Funktionsweise der Demokratie zufrieden sind.

(3) Die Substitutionsthese: Eine wachsende Distanz zu Parlamenten, Parteien und Politikern ist Ausdruck des kritisch-aufgeklärten Bewusstseins der Bürger. Weder die Mitarbeit in Parteien und Verbänden noch das Wählen werden ihren pluralisierten Lebensstilen und politischen Präferenzen gerecht. Deshalb verlagert sich die politische Partizipation von Wahlen auf „unkonventionelle“ Beteiligungsformen wie Bürgerbewegungen, den direkten Kontakt zu Entscheidungsträgern, Unterschriftensammlungen oder politisch motivierte Produktboykotte.

Im Rückgang der Wahlbeteiligung erkennen diese Thesen keinen beunruhigenden Trend. Doch bei genauerem Hinsehen überzeugen sie nicht. Die Normalisierungsthese ist unbefriedigend, weil die Wahlbeteiligung in fast allen etablierten Demokratien sinkt. Geschieht dies anderswo schneller als in Deutschland, kann ein internationaler Spitzenplatz auch bei einer kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung behauptet werden. Zwar lässt sich so zeigen, dass die deutsche Entwicklung keine Besonderheit ist, allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, welche Wahlbeteiligung notwendig ist, um eine Regierung zu legitimieren. Noch gravierender sind die Einwände gegen die beiden anderen Thesen, da sie die negativen Konsequenzen einer sinkenden Wahlbeteiligung für das Ideal politischer Gleichheit übersehen.

Zufriedenheits- und Substitutionsthese legen nahe, dass einerseits politisch Zufriedene und andererseits diejenigen, die unkonventionelle Partizipationsformen nutzen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit als die Unzufriedenen und Inaktiven wählen. Dies lässt sich statistisch überprüfen. Im ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften) wird die Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie abgefragt. Darüber hinaus wird erhoben, ob die Befragten bei der Bundestagswahl 2002 gewählt haben. Mithilfe dieser und weiterer, demografischer Angaben lässt sich bestimmen, von welchen Faktoren die Wahlteilnahme abhängt. Positiv wirken sich das Alter, die Herkunft aus Westdeutschland, das Haushaltseinkommen und das politische Interesse auf die Wahrscheinlichkeit zu wählen aus.

Welchen Einfluss haben Demokratiezufriedenheit und unkonventionelle Partizipation? Abbildung 2 zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit zu wählen bei den Zufriedenen wie auch bei den politisch Aktiven höher als bei den Unzufriedenen und Inaktiven liegt. Besonders ausgeprägt ist der Effekt der Demokratiezufriedenheit. Während die hochgradig Zufriedenen sicher wählen, liegt die Wahrscheinlichkeit bei den Unzufriedenen deutlich niedriger – auch wenn sie sich weder im Bildungsgrad oder Einkommen noch im politischen Interesse unterscheiden.

Die international vergleichende Forschung belegt zudem, dass Wahlen umso stärker sozial verzerrt sind, je niedriger die Wahlbeteiligung ist, da sich unter den Nichtwählern überproportional Menschen mit niedriger formaler Bildung und geringem Einkommen befinden. Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung wählen vorwiegend sozial Bessergestellte, während jene zu Hause bleiben, die mangels individueller Ressourcen auf kollektives Handeln angewiesen sind, um ihre Lebensumstände zu ändern. Lernen Politiker, dass bestimmte Gruppen ohnehin nicht wählen, richten sie ihr Augenmerk auf wahlrelevante Milieus. Durch die soziale Ungleichheit der Nichtwahl wird die politische Kommunikation zwischen Wählern und Volksvertretern zulasten der sozial Schwachen verzerrt.

Diese Schieflage wird durch den Trend verschärft, den die Substitutionsthese beschreibt. Während Wahlen an Bedeutung verlieren, breiten sich unkonventionelle Formen politischen Engagements aus. Mehr Menschen als früher arbeiten beispielsweise in Bürgerbewegungen mit, richten Petitionen an Parlamente, sammeln Unterschriften oder boykottieren Produkte aus politischen Motiven. Solche neuen Formen des politischen Engagements ersetzen althergebrachte, weil diese den Bedürfnissen der Wähler nicht mehr entsprechen. Der Trend zu unkonventionellem Engagement wird häufig als Beleg für eine intakte, lebendige Demokratie angesehen. Verdeckt wird dabei, dass diese Arten politischer Partizipation stärker noch als das Wählen sozial verzerrt sind. Um dies zu verdeutlichen, sind in Abbildung 3 unterschiedliche Formen politischer Teilhabe aufgeführt. Dargestellt wird, wie sich Unterschiede im Einkommen und der Bildung auf die Wahrscheinlichkeit auswirken, eine politische Aktivität auszuüben. Auf den beiden Seiten der Grafik werden zwei statistisch ermittelte Personen miteinander verglichen, die sich in nichts als den Merkmalen „Einkommen“ (unteres versus oberes Einkommensdrittel) und „Bildung“ (kein Schulabschluss oder Hauptschulabschluss versus Fachhochschulreife und höher) beziehungsweise einer Kombination aus diesen beiden Merkmalen unterscheiden. Allein der Unterschied in einem Merkmal sorgt für einen deutlichen Abstand in der Partizipationswahrscheinlichkeit, die sich in der unterschiedlichen Balkenlänge zeigt.

Im Fall der Kombination der Merkmale Einkommen und Bildung wächst der Abstand weiter an. Entscheidend ist der Beteiligungsquotient, der in Klammern angegeben ist. Er gibt das Verhältnis der jeweils hell- und dunkelorangefarbenen Balken an und zeigt, wie stark eine Form politischen Engagements verzerrt ist: Je näher der Wert an eins liegt, desto gleicher ist die Partizipationswahrscheinlichkeit. Wie sich leicht erkennen lässt, sind Wahlen am geringsten sozial verzerrt, während unkonventionelle Beteiligungsformen mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit von gebildeten Personen mit überdurchschnittlichem Einkommen ausgeübt werden. Dieses Ergebnis bestätigt ein Vergleich der politischen Partizipation in sechzehn europäischen Ländern.

Führt man sich diese Befunde vor Augen, wird deutlich, weshalb eine sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Da Wahlen eine niederschwellige Beteiligungsform sind, sichern sie stärker als andere Arten politischen Engagements die gleiche Teilhabe. Zwar sind unkonventionelle Beteiligungsformen weit verbreitet, doch ist bei ihnen die Verzerrung zulasten der sozial Schwachen besonders ausgeprägt. Je anspruchsvoller das Beteiligungskriterium, desto niedriger ist deren Engagement. Wahlen sind weniger sozial verzerrt als andere Beteiligungsformen. Allerdings gilt dies nur, solange die Wahlbeteiligung hoch ist. Nimmt die Wahlbeteiligung flächendeckend ab, verliert jene Beteiligungsform an Bedeutung, die am stärksten die politische Gleichheit der Bürger wahrt.

Was kann getan werden?

Um die Menschen wieder zur Wahl zu animieren, gibt es eine Reihe von Vorschlägen. So könnte eine Wahlpflicht eingeführt oder versucht werden, Wahltermine besser aufeinander abzustimmen. Findet eine Landtagswahl am selben Tag wie die Bundestagswahl statt, liegt die Wahlbeteiligung deutlich höher. Häufig wird zudem angeregt, Elemente direkter Demokratie einzuführen, um den Bürgern unmittelbares politisches Mitspracherecht einzuräumen. Auch soll die Möglichkeit ausgeweitet werden, Stimmen auf Kandidaten mehrerer Listen zu verteilen (Kumulieren und Panaschieren). Neben diesen seit Langem diskutierten Ideen, die teilweise auch umgesetzt werden, gibt es einige neue Vorschläge. Zum Beispiel wurde in einem Bericht für den Europarat empfohlen, dass Wähler bei der Stimmabgabe ein Los erhalten und die anschließend ermittelten Lotteriegewinner bei einem Teil der öffentlichen Ausgaben mitentscheiden dürfen.

Mit diesen Reformen soll die tatsächliche Wahlmöglichkeit erweitert und das Wählen attraktiver werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch empirische Analysen über die Auswirkung von sozialer Ungleichheit auf politische Partizipation legen andere Schlussfolgerungen nahe: Möchte eine Gesellschaft das Ideal politischer Gleichheit verteidigen, muss sie sicherstellen, dass die soziale Ungleichheit nicht ausufert. Denn je ungleicher ein Land ist, desto weniger vertrauen die Bürger ihren Politikern und Parlamenten und desto unzufriedener sind sie mit der Demokratie. Wer sich über eine niedrige Wahlbeteiligung erregt, muss ebenfalls die sozialen Voraussetzungen politischer Partizipation in den Blick nehmen. Geschieht dies nicht, verkümmert die Erregung an Wahlabenden zum folgenlosen Ritual.

Originalveröffentlichungen

U. Kohler:
Die soziale Ungleichheit der Wahlabstinenz in Europa.
In: (Hg.) J. Alber, W. Merkel. Europas Osterweiterung: Das Ende der Vertiefung? WZB-Jahrbuch 2005. edition sigma, Berlin 2006, 159–179.
A. Schäfer:
Krisentheorien der Demokratie: Unregierbarkeit, Spätkapitalismus und Postdemokratie.
MPIfG Discussion Paper 08/10. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2008.
F. Solt:
Economic Inequality and Democratic Political Engagement.
American Journal of Political Science 52, 48–60 (2008).
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