Demografie der Ungleichheit

21. September 2011

Indiens Lebenserwartung, wichtiger Indikator für die Entwicklung des Landes, schwächelt: Der zunächst steile Anstieg ist inzwischen besorgniserregend ausgebremst, einzelne Regionen unterscheiden sich um bis zu 10 Lebensjahre und mehr. Dies bestätigt jetzt eine Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung. Indiens Demografie zeichnet frappierende Ungleichheit – wie das Land selbst.

Autor: Björn Schwentker

Zum Glück ist Nandita Saikia hartnäckig. Wer mit der jungen Bevölkerungswissenschaft­lerin von der Universität Delhi über Indiens Demografie reden will, scheitert zunächst am Telefon: Keine Verbindung, die Leitung unterbricht, rauscht, piept. Dabei ist ihr Forschungsinstitut, das Population Research Centre am Institute of Economic Growth technisch am Puls der Zeit: Die E-Mails der Inderin treffen im Sekundentakt ein, bis eine Kommunikations-Lösung gefunden ist. Per Privathandy hält die Leitung. In Saikias Stimme schwingt Sorge mit: „Indien hat noch einen langen Weg vor sich“.

Die Entwicklung ihres Landes liegt der Demografin am Herzen. Zusammen mit Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock (Vladimir M. Shkolnikov and Domantas Jasilionis) und Faujdar Ram vom International Institute for Population Sciences in Mumbai hat sie bisher unerreicht zuverlässiges Zahlen für die indische Lebenserwartung berechnet – und damit einen der wichtigsten Indikatoren für den Entwicklungsstand des Subkontinents.

Die Ergebnisse, veröffentlicht im Wissenschaftsmagazin „Population Studies“ zeichnen ein zwiespältiges Bild: Die Lebenserwartung stieg zwar zwischen 1970 und 2004 beträchtlich – ein untrügliches Zeichen dafür, dass der rasante wirtschaftliche Fortschritt die Lebens- und Gesundheitsstandards in Indien generell verbessert hat. Doch dann flachte die Kurve Mitte der 90er-Jahre plötzlich ab (Abb. 2). In einigen Staaten stagniert die Sterblichkeit sogar. Ein Vorbote für die ökonomische Entwicklung des Riesenlandes?

Fragen werfen auch die Details auf, die das deutsch-indische Wissenschaftlerteam in seinen Daten entdeckte: Die berechnete Lebenserwartung schwankt von Staat zu Staat innerhalb Indiens massiv, es gibt Differenzen von über zehn Jahren. Eine große Kluft gafft zwischen Stadt- und Landbevölkerung und – wenngleich nicht ganz so groß - zwischen Männern und Frauen. Das Irritierende daran:  Im überwiegenden Rest der Welt leben Frauen viel länger als Männer. In Indien ist es anders herum, wie die nun kalkulierten Werte belegen. Ein Unikum?

Verlässliche Daten aus einem riesigen Land

Dass Nandita Saikia und ihre MPIDR-Kollegen solche Unterschiede überhaupt sichtbar machen konnten, liegt an einer speziellen Datenerhebung und einer besonderen Methode, um die Lebenserwartung zu berechnen. „Meines Wissens gibt es keine andere Quelle, die für Indien verlässliche und einheitlich berechnete Sterblichkeitswerte zur Verfügung stellen würde, die sowohl einen großen Zeitraum abdecken, als auch das ganze Land und die wichtigsten Staaten“, sagt Domantas Jasilionis, Mitautor der Studie vom Arbeitsbereich demografische Daten am Rostocker MPI.

Die Ergebnisse des Teams sind auch deswegen einzigartig, weil die amtlichen Statistiken Indiens vergleichbar gute Maßzahlen nicht hergeben. Nicht einmal die von den Vereinten Nationen berechneten Lebenserwartungen bei Geburt erreichten die erforderliche Genauigkeit, sagt Domantas Jasilionis: „Besonders für Ältere sind die zu Grunde liegenden Erhebungen zu ungenau“.

Da hilft es auch nichts, dass Indien gerade seine jüngste Zensus-Runde 2011 abgeschlossen hat. Denn im Rahmen der Volkszählung werden nur recht einfache Zahlen erhoben, wie die Gesamtbevölkerung der Orte und Distrikte, ihre Bevölkerungsdichten, die Geschlechterverhältnisse oder der Alphabetisierungsgrad. Damit weiß man recht genau, dass in Indien inzwischen 1,2 Milliarden Menschen leben. Und auch, dass der Subkontinent wahrscheinlich 2020 China als größtes Land der Welt ablösen wird.

"Um verlässliche Lebenserwartungen zu berechnen, braucht es aber wesentlich mehr: Eine komplette Bevölkerungsstatistik mit verlässlichen Sterbezahlen für jeden Geburtenjahrgang und jede Altersstufe. Die gigantische Aufgabe, ein solches System für alle Bereiche des riesigen Landes fehlerfrei zu halten, ist bisher noch nicht gemeistert."

Die indische Forscherin brachte Daten-Wissen mit

„Für die Lebenserwartung versuchen wir jetzt die Wissenslücke zu füllen“, sagt Nandita Saikia. Als sie im Herbst 2008 als Studentin der International Max Planck Research School for Demography zum ersten Mal ans MPIDR nach Rostock kam, brachte sie das Wissen über eine spezielle demografische Erhebung namens „Sample Registration System“ mit. Sie erfasst stichprobenartig die Bevölkerungsstatistik von etwa sechs Millionen Indern in allen Regionen des Landes. Mit Hilfe der Rostocker Datenexperten analysierte Saikia in den folgenden Jahren die Daten, und stellte fest: Sie sind ausgezeichnet – allerdings nur bis zum Alter von 60 Jahren.

Damit lässt sich zwar auch aus diesem Datensatz nicht die Ziffer berechnen, die die Öffentlichkeit zumeist als „Lebenserwartung“ diskutiert: die so genannte „Lebenserwartung bei Geburt“ (für Frauen in Deutschland lag sie 2009 bei 82,4 Jahren). Sie gibt an, wie alt ein heute geborenes Kind werden würde, wenn die Sterblichkeits- und Gesundheitsbedingungen für jede Altersstufe so bleiben würden wie heute.

Stattdessen berechneten die Forscher einen Wert, der den fehleranfälligen Teil der indischen Stichprobenstatistik außen vor lässt: eine „befristete (temporäre) Lebenserwartung“ (BLE) bis zum Alter von 60 Jahren. Per Definition kann sie den Wert von 60 Jahren nie überschreiten. Tatsächlich werden die Inder im Durchschnitt inzwischen älter. Doch diesen Durchschnitt kann man eben nicht mit ausreichender Sicherheit berechnen. Die befristete Lebenserwartung hingegen ist belastbar.

Liegt sie genau bei 60, so heißt das: Die gesamte Bevölkerung hat überlebt, bis sie 60 wurde. Das schafft keine Population, aber entwickelte Länder kommen nah heran: Frauen in Deutschland  erreichten für den Zeitraum von 2000 bis 2004 einen Wert von 59. Das entspricht 93 Prozent aller Frauen, die ihren sechzigsten Geburtstag erleben. Das BLE-Niveau für indische Frauen liegt deutlich niedriger: 50,3 Jahre.

Die Aufholjagd bei der Lebenserwartung ist vorbei

Der Unterschied macht sichtbar, wie weit Indien noch hinter einem westlichen Land wie Deutschland zurück liegt. Aber die Ergebnisse von Saikia und ihren MPIDR-Kollegen zeigen auch, wie stark die Lebenserwartung seit 1970 auf dem Subkontinent gestiegen ist: Für indische Frauen kletterte die befristete Lebenserwartung seit den 70ern innerhalb von drei Jahrzehnten um fast neun Jahre, das sind über 20 Prozent. Die der deutschen Frauen legte derweil nicht einmal um zwei Jahre zu – ein Plus von gerade einmal drei Prozent.

Während die vermeintlich kleinen deutschen Zuwächse für ein entwickeltes Land normal sind, hat Indien wesentlich größere Zugewinne bitter nötig. Denn Deutschland gehört international zur Führungsriege der Länder mit niedriger Sterblichkeit, Indien  landet in der 193 Länder umfassenden Liste der Vereinten Nationen auf Platz 145. Vor 60 Jahren lag es noch auf Rang 160, die Asiaten haben also früher überdurchschnittliche Fortschritte gemacht. Doch seit Mitte der Neunziger ist die Aufholjagd vorbei. Immerhin: Der Subkontinent ist nicht wieder in der Rangliste zurückgefallen.

Ein schwacher Trost, glaubt Nandita Saikia. „Für Indien als Ganzes verbessern sich zwar alle demografischen Indikatoren“, sagt die Demografin. Doch die entscheidende Frage sei: „Sind wir in der Lage, die krassen Ungleichheiten im Land auszugleichen?“ An deren Ausmaß lassen ihre Berechnungen der befristeten Lebenserwartung keinen Zweifel: Um bis zu acht Jahre unterschied sich die BLE für Männer aus unterschiedlichen indischen Regionen im Zeitraum 2000 bis 2004. Für Frauen waren es sogar elf.

Obwohl sich die regionale Kluft in den letzten 30 Jahren statistisch gesehen halbiert hat, bleibt sie groß. Zum Vergleich: Zwischen den deutschen Bundesländern unterscheidet sich die Lebenserwartung bei Geburt für Männer derzeit um etwa dreieinhalb Jahre, für Frauen um gut zwei.

Inder aus dem Nordosten sterben früher

Nandita Saikia glaubt, dass die Ungleichheiten noch größer sind, als der einfache Regionenvergleich suggeriert. So lebe eine Frau im ländlichen Madhy Padesh zum Beispiel durchschnittlich 21 Jahre weniger als eine in der Stadt in Kerala. „Könnten wir die Lebenserwartung nicht nur nach Region, sondern nach Wohnort und sozio-ökonomischem Status berechnen, wie Wohlstand, Religion und Kastenzugehörigkeit, dann wäre die Schere noch größer“, sagt die Inderin.

Auch das regionale Muster, das sich aus ihren Daten lesen lässt, ist der Wissenschaftlerin noch nicht genau genug. Es bestätigt die Ergebnisse früherer Studien: Die Lebenserwartung ist im wohlhabenderen und gebildeteren Südwesten Indiens tendenziell höher als im Nordosten. Doch das Bild ist nicht eindeutig: So übersteigt die BLE in den nördlichen Regionen Punjab und Himachal Pradesh deutlich die anderen Durchschnittswerte im Norden.

Viel mehr solcher Unregelmäßigkeiten ergäben sich, wenn man die Lebenserwartung nicht nur für Regionen, sondern für einzelne Distrikte berechnen könnte, vermutet Nandita Saikia. Das recht einheitliche Bild der Regionalstatistik könnte dann zu einem unübersichtlichen Flickenteppich werden.

Doch genau den müsse man sichtbar machen und erforschen, um gezielt bewerten zu können, wo die Defizite in der indischen Entwicklung liegen. „Wir brauchen lokale Daten“, sagt Demografin Saikia, „um herauszufinden, warum der Fortschritt an so vielen Stellen stagniert, obwohl die Regierung viel in Hilf- und Entwicklungsprogramme investiert.“

Frauen sind der Schlüssel zum Fortschritt

Besonders folgenschweres Beispiel: Indiens Kindersterblichkeit. Bis in die 90er-Jahre stieg die Lebenserwartung vor allem deswegen, weil die Todesfälle der 0 bis 15-Jährigen überall spürbar zurück gingen (GRAFIK 2). Dann brach der BLE-Zuwachs ein, weil das Land die Kindersterblichkeit kaum weiter drücken konnte. In drei von 16 Regionen nahm sie sogar wieder zu, in drei weiteren blieb der Entwicklungsstand einfach stehen.

„Ohne grundlegende Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung speziell für Frauen und Gebärende schaffen wir die nötigen Fortschritte bei der Kindersterblichkeit nicht“, glaubt Nandita Saikia. Überhaupt sind die Frauen für die Forscherin der Schlüssel zur weiteren Entwicklung. Denn wo Frauen autonomer und besser gebildet sind, steigt die Geburtenkontrolle und die hohen Geburtenraten sinken ebenso wie die Kindersterblichkeit.

Der Weg dahin ist für Indien noch weit. Weit verbreitete patriarchalische Traditionen und Gesetze erschweren Fortschritte in Richtung Frauenautonomie. Dass die befristete Lebenserwartung der indischen Frauen niedriger ist als die der Männer, spiegelt die Ungleichheit der Geschlechter ebenso wie die alarmierenden Abtreibungsraten weiblicher Föten und die hohe Müttersterblichkeit bei Geburt. Das Leben einer Frau ist in Indien weniger Wert als das eines Mannes. Auch deswegen finden jährlich 1,8 Millionen indische Kinder den Tod, bevor sie fünf Jahre alt werden.

Auf mehr Engagement im Kampf gegen Kindersterblichkeit drängt auch das Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF). In seiner jüngsten Trendstudie wies es nach: Immer noch sterben in Indien 66 von Tausend Neugeborenen, bevor sie fünf Jahre alt werden (Wert für 2009; Vergleich für Deutschland: vier aus Tausend Kindern). Damit bleibt Indien hinter den anderen Weltteilen zurück. Dennoch: Seit 1990 hat sich der Prozentsatz fast halbiert. Die Entwicklung ist also weiterhin positiv – wenn auch nicht überall.

Das bedeutet auch: die Lebenserwartung kann nur dann substanziell weiter wachsen, wenn der Anstieg von einer zunehmenden Überlebenswahrscheinlichkeit der Erwachsenen kommt. Denn dort, wo die Kindersterblichkeit bereits gering ist, können prozentuale Verbesserungen die Lebenserwartung nicht mehr spürbar steigern.

Indien steckt mitten im so genannten „epidemiologischem Übergang“: Die Bekämpfung infektiöser Krankheiten, wie Durchfall, Lungenentzündung, Tuberkulose oder Malaria, die insbesondere Kinderleben gefährden, ist in vielen Staaten bereits geglückt: Durch einfache Mittel wie bessere Hygiene, sauberes Wasser, Impfungen und medikamentöse Behandlungen.

Die modernen Zivilisationskrankheiten kommen

„Jetzt beginnt das Land auch mit den Problemen der Erwachsenen zu kämpfen“, sagt Nandita Saikia. Auf dem Vormarsch sind vor allem chronische Erkrankungen, wie Herz-Kreislauf-Krankheiten und gesundheitliche Probleme durch ungesunder Lebensstil, zu wenig Bewegung, schlechte Essgewohnheiten, und allem voran: Rauchen. Schätzungen gehen davon aus, dass inzwischen ein Fünftel aller Todesfälle unter indischen Männern zwischen 30 und 69 Jahren eine Folge des Tabakkonsums sind. Gegen die neuen Zivilisationsleiden hat Indien noch kein Rezept gefunden. Das muss es aber, sonst geht es mit der Lebenserwartung nicht voran.

So paradox es klingt: Es ist ein Zeichen des Fortschritts, dass sich in Indien nun – wie zuvor in vielen anderen Ländern desselben Entwicklungsstadiums – die neuen Krankheiten ausbreiten. Macht Indien also gerade den entscheidenden Schritt auf eine Entwicklungsstufe mit den reichen Ländern der Welt, für die Rauchen, Übergewicht und chronische Krankheiten inzwischen zur größten Herausforderung in der Gesundheitspolitik geworden sind?

Nein, das sei zu einfach gedacht, meint Nandita Saikia. Dazu sei ihr Land zu divers. „In Indien finden Sie alles“, sagt die Demografin. Während einige Regionen den epidemiologischen Übergang schon hinter sich haben, liegt die Kindersterblichkeit in anderen noch so hoch wie in den ärmsten Ländern Afrikas. Noch ist der Kampf um eine höhere Lebenserwartung für Indien ein Kampf an allen Fronten.

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