Ferroelektrika: Digitales Gedächtnis in der Pol-Position

Ein Computer bewahrt Daten bislang in Arbeitsteilung auf: Beim Start lädt er sie erst von der Festplatte in den Arbeitsspeicher. Dietrich Hesse und Marin Alexe erforschen am Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik in Halle ferroelektrische Speichermaterialien, die das Hochfahren eines Rechners überflüssig machen würden und Daten besonders dicht packen könnten.

Text: Peter Hergersberg

Richtig spannend wurde es für Marin Alexe abends in der Schlange vor dem Zapfhahn. Nicht, dass der Tag zuvor uninteressant gewesen wäre. Schließlich war Alexe extra für die Herbstschule zur Elektronenmikroskopie aus Rumänien nach Halle gekommen. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, von der Mikrobiologie bis zur Festkörperphysik, hatten sich hier im September 1994 am Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik versammelt, um Neues über die Methode zu erfahren, mit der sich  Metalle, Keramiken aber auch Viren oder Eiweißmoleküle Atom für Atom untersuchen lassen. In seiner täglichen Arbeit hatte Marin Alexe damit bislang  eher weniger zu tun gehabt.

„Ich wollte die Methode mal kennenlernen“, sagt der Physiker – ein fröhlicher Mann mit markantem Schnauzbart, der damals am Nationalinstitut für Materialphysik in Bukarest eine Arbeitsgruppe leitete, obwohl er selbst gerade erst promovierte.  Während er also nach vielen Vorträgen für ein Bier ansteht, teilt ihm der Zufall den Platz neben Dietrich Hesse zu, und die beiden Wissenschaftler kommen ins Gespräch. Eine Plauderei mit Folgen.

Noch heute erinnern sich die beiden Forscher genau an ihr erstes Treffen. Sie sitzen  in Alexes schmalem Büro, dessen Wände bis unter die Decke mit Büchern zugestellt sind, dazwischen ein Stapel Schubfächer mit nummerierten Probengläschen. Marin Alexe erzählt, dass er an jenem Abend im September 1994 noch sehr viel mit Dietrich Hesse geredet hat. Knapp zwei Jahre später zieht er von Bukarest nach Halle und tritt am Max-Planck-Institut eine Stelle an, erst für zwei Jahre als Gast, anschließend im wissenschaftlichen Stab des Instituts. Denn in dem Gespräch, das nur nutzlose Zeit überbrücken sollte, haben die Physiker ziemlich schnell festgestellt, dass sie am selben Thema arbeiten: Ferroelektrika.

Weltweit erforschen nur wenige Forscher diese Materialien, obwohl sie nicht nur für Physiker mit einem Faible für ausgefallene Effekte interessant sind, sondern auch für Anwendungen in der Mikroelektronik. Denn ein Computer, der Information in einem ferroelektrischen Material speichert, hätte gegenüber einem Rechner von heute einen Startvorteil: Er müsste nicht langsam aufwachen, wenn er mit Strom belebt wird – er wäre auf Knopfdruck da wie ein Fernsehbild. Wird ein Rechner gestartet, lädt er Daten von der Festplatte in den Arbeitsspeicher, quasi vom Langzeit- ins Kurzzeitgedächtnis. Mit ferroelektrischen Speichern könnte sich diese Arbeitsteilung erübrigen, weil die Materialien die Vorteile von Festplatten und Arbeitsspeichern vereinen.

Die Festplatte bewahrt digitale Information in winzigen Magneten auf, die sich in zwei Richtungen polen lassen, sie erinnert sich daher dauerhaft. Man kann sie aber nicht beliebig dicht bepacken, weil sie mit einem Magnetfeld beschrieben und ausgelesen wird, das sich nicht auf wenige Nanometer fokussieren lässt. Außerdem entsteht dabei zu viel Wärme, um damit die Rechenoperationen eines laufenden Software-Programms auszuführen. Diese Probleme hat der Arbeitsspeicher nicht, aber er verliert das Gedächtnis, wenn der  Strom weg ist. Denn er merkt sich elektrisch, was der Mensch vor dem Bildschirm gerade braucht.

Arbeitsspeicher und Festplatte fusionieren

Ein Speicher aus einem ferroelektrischen Material kann beides: Er könnte Information sehr dicht zusammenpacken – und sich auch noch daran erinnern, wenn der Rechner ausgeschaltet wird oder der Strom ausfällt. In einem Ferroelektrikum wird Information nämlich auf permanenten elektrischen Dipolen abgelegt. Dort lässt sie sich mit einem elektrischen Feld, also einer Spannung, die sich auf einen sehr engen Raum begrenzen lässt, abrufen und verändern.

Die Dipole entstehen, weil in Ferroelektrika positiv und negativ geladene Ionen im Kristallgitter leicht gegeneinander verschoben sind. Sie können sich wie magnetische Dipole in entgegengesetzten Richtungen orientieren und so die Null und die Eins des digitalen Codes speichern. Und zwar dauerhaft: Die Ionen bleiben auch in den polarisierten Positionen, wenn die elektrische Spannung von außen, die zur Einstellung von Null oder Eins dient, wegfällt. Ganz so, wie die magnetischen Momente in Ferromagneten ihre Ausrichtung auch ohne äußeres Magnetfeld beibehalten. Dieser Analogie zu Ferromagneten verdanken die Ferroelektrika ihren Namen.

Ehe die Materialien jedoch die Fusion von Arbeitsspeicher und Festplatte ermöglichen, sind noch einige grundlegende Fragen zu klären: Auf welche Größe lassen sich ferroelektrische Datenpunkte schrumpfen und wie dicht lassen sie sich packen? Wie funktioniert genau die Umpolung? Kann man sie möglicherweise noch beschleunigen? Und wie lassen sich aus dem Material effizient Transistoren herstellen?

Auch um solche Fragen ging es, als Dietrich Hesse und Marin Alexe sich an jenem Spätsommerabend 1994 lange unterhielten. „Sie müssen unbedingt auch Herrn Gösele kennenlernen“, sagte Hesse am Ende des Abends zu seinem rumänischen Kollegen und führte ihn gleich am nächsten Morgen in dessen Büro. „Ich wusste nicht, wer Herr Gösele war“, sagt Alexe: „So ein netter Mann, und so jung – ich konnte gar nicht glauben, dass er Direktor war.“

Ulrich Gösele, der vor zwei Jahren völlig unerwartet gestorben ist, hatte die Forschung über Ferroelektrika am Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik angeregt. „Sein Ziel war es immer, grundlegende Probleme mit Blick auf künftige Entwicklungen in der Mikroelektronik zu lösen“, sagt Dietrich Hesse, ein nachdenklicher, sehr zuvorkommender Herr. Und das bestimmt auch heute noch die Arbeit der Wissenschaftler in Halle: „Wir räumen die dicken Brocken aus dem Weg, der zu neuen elektronischen Anwendungen führt.

Einer der ersten Brocken, dem sie begegneten, war die Herstellung der Ferroelektrika. Die Materialien enthalten meist mehrere Metalle, darunter oft Titan, aber auch Bismut oder Blei, sowie Sauerstoff und hören auf sperrige Namen wie Bismuttitanat, Bleizirkonattitanat (PZT) oder Strontiumbismuttantalat (SBT). Damit die Substanzen ferroelektrische Eigenschaften annehmen, müssen ihre Zutaten nicht nur in genau abgemessenem Verhältnis abgemischt werden. Die Atome müssen sich auch zu einem akkuraten Gitter anordnen. Das ist chemische Präszisionsarbeit, mit der die Chemie meist überfordert ist. Darum greifen die Forscher in solchen Fällen zu einer physikalischen Methode, der gepulsten Laser-Abscheidung.

Ionela Vrejoiu ist dafür die Expertin am Hallenser Max-Planck-Institut. In dem Labor, in dem sie arbeitet, zischen und brummen Pumpen, ein Schrank mit Steuerelektronik steht prominent im Raum, mehrere trommelförmige Edelstahlkammern werden von brusthohen Podesten getragen. Die Apparate, an die verschiedene Instrumente angeflanscht sind, lassen sich auf einer Seite öffnen wie Waschmaschinen. Ein armdickes, rotes Plastikrohr verbindet eine Kammer von schräg oben mit einem ultravioletten Laser.

Nanostrukturen für Speicher in Computern

Der Laser trifft in der Vakuumkammer auf einen medaillengroßen Teller mit einem Metalloxid. Darauf sind die Komponenten des Ferroelektrikums schon im richtigen Verhältnis zusammengemischt, aber in ziemlich unordentlicher Form. Daher verdampfen Energiesalven des Lasers das Material zu gut dosierbaren Plasmawölkchen. Das ionisierte Metalloxid-Gas schlägt sich dann auf einer Trägeroberfläche ab, die kopfüber an der Decke der Kammer angebracht ist. Weil der Sauerstoff aus den Verbindungen sich gerne an dem Träger vorbei verflüchtigt, strömt ein wenig zusätzlicher Sauerstoff in die Kammer. Den Großteil der Gasteilchen, die sonst noch durch die Kammer schwirren, saugen die Pumpen dagegen unerbittlich ab.

„Damit wir brauchbare Proben bekommen, müssen wir an vielen Stellschrauben drehen“, sagt Ionela Vrejoiu. Sie kann mal mehr oder weniger Sauerstoff in die Kammer blasen, das Trägermaterial kühlen oder heizen, die Intensität des Lasers regulieren und den Abstand zwischen dem Teller mit dem Ausgangsstoff und dem Träger regulieren. Entsprechend oft probiert die Physikerin, ehe sie zu dem gewünschten Ergebnis kommt. Erfahrung hilft dabei, reicht aber nicht. Denn schon eine leicht variierte Zusammensetzung kann das Verhalten eines Materials beim Appell in der atomaren Schicht völlig verändern. „Ganz wichtig ist auch, dass wir die Oberfläche des Trägermaterials sehr gut reinigen“, sagt Vrejoiu. Und dennoch gibt es Materialien, die sich gegen die Anordnung in akkuraten Schichten beharrlich sträuben. Mit ihrer eigenen kleinen Forschungsgruppe erforscht Vrejoiu daher systematisch, wie sich die schwierigen Fälle in den Griff kriegen lassen.

Doch fehlerfreie Schichten der ferroelektrischen Metalloxide zu produzieren, reicht nicht. Die Forscher müssen daraus winzige Datenpunkte einheitlicher Gestalt und Größe formen und sie regelmäßig auf einer Oberfläche platzieren. „Uns war von Anfang an klar, dass wir für Speichermaterialien in Computern Nanostrukturen brauchen“, sagt Dietrich Hesse. Den Durchbruch dabei verdanken er und Marin Alexe wiederum einer glücklichen Fügung.

Im Jahr 1997 hielt sich James Scott mit einem Humboldt-Stipendium in Halle auf. Marin Alexe nennt ihn einen der führenden Ferroelektriker weltweit. Mit dem amerikanischen Forscher, der heute im britischen Cambridge arbeitet, machten sie die Nanowelt mit den Ferroelektrika bekannt. „Wir haben damals den Anstoß gegeben, Nanoeffekte in ferroelektrischen Materialien zu untersuchen“, sagt Dietrich Hesse.

Speicherdichte von bis zu einem Terabit

So schrumpften Marin Alexe und seine Kollegen PZT- und SBT-Datenpunkte auf Nanoformat. Zunächst setzten sie dabei auf die Elektronenstrahl-Lithografie. Mit einem feinen Elektronenstrahl lassen sich filigrane Muster gravieren, allerdings nur in metallorganische Schichten. Doch die Forscher können die metallorganischen Verbindungen, die neben Metallen Kohlenstoffverbindungen enthalten, zu Ferroelektrika oxidieren, die sie mit einer Hitzebehandlung noch in kristalline Form bringen.

Auf diese Weise schnitt und brannte Alexe ferroelektrische Nanokacheln, die mit gut 100 Nanometer Abstand in ordentlichen Reihen auf einer Strontiumtitanat-Oberfläche liegen. Die einzelnen Steinchen schaltete der Wissenschaftler anschließend mit der elektrisch leitenden Spitze eines Rasterkraftmikroskops. Heute üblichen Festplatten konnten sie damit noch keine Konkurrenz machen, aber es war ein Anfang.

Inzwischen haben die Physiker ihre ferroelektrischen Datenpunkte weiter verdichtet, indem sie dem Material die Nanostruktur mit einer Maske vorgaben. Die Schablone sieht aus wie eine Honigwabe, ihre Poren sind allerdings gerade mal 100 Nanometer weit und durch 60 Nanometer dünne Wände getrennt. Durch sie hindurch dampften die Forscher mit Laserpulsen Bleizirkonattitanat auf ein Platinplättchen. Mit einem Platindeckel komplettierten sie anschließend die Nanokondensatoren, die als Speicherpunkte dienen. So schafften sie eine Speicherdichte von 176 Gigabit pro Quadratzoll. „Und wir können auf diesem Weg im Labor wahrscheinlich ein Terabit pro Quadratzoll erreichen“, sagt Dietrich Hesse.

Die Chipindustrie müsste den Herstellungsprozess dichtgepackter ferroelektrischer Speicher sicherlich abwandeln. Denn die gepulste Laser-Abscheidung avancierte zwar zur Methode der Wahl, um im Labor flexibel Oxidschichten zu züchten. Doch für die Produktion im großen Stil sind die Materialmengen zu klein, die sich damit in vertretbarer Zeit verarbeiten lassen. Dietrich Hesse vermutet daher, dass ferroelektrische Nanospeicher großtechnisch mit der chemischen Dampf- oder Nebelabscheidung erzeugt würden. Doch dieses Problem zählt nicht mehr zu den großen Brocken, die Grundlagenforscher beseitigen müssen. Dazu gehört aber wiederum die Physik des ferroelektrischen Umschaltprozesses.

Ein Spielplatz vollgestopft mit Messgeräten

Die untersucht Marin Alexe in seinem Labor ein Stockwerk über seinem Büro. „Das ist mein Spielplatz“, sagt er, als er den Raum betritt, der etwa die Größe eines Klassenzimmers hat und vollgestopft ist mit geheimnisvollen Geräten. Eine schwarze Box so groß wie eine Waschmaschine neben dem Eingang fällt auf, ein Fass mit flüssigem Stickstoff steht im Raum, aus einer Apparatur ragt ein dünnes Rohr mit einem Trichter, durch den der kühlende Stickstoff eingefüllt wird. Und natürlich gibt es viele Kästen mit Steuer- und Messelektronik.

Durch dieses Hightech-Inventar steuert Alexe zielstrebig in die entlegenste Ecke des Labors und greift aus einem Regal den unscheinbarsten Gegenstand, der hier zu finden ist: Eine Keksdose mit gelblichem, inzwischen reichlich getrübtem Glanz. „Das ist mein erstes Messgerät, das ich an einem Nachmittag gebaut habe“, sagt der Physiker. Während die meisten Wissenschaftler beim Bohren, Schrauben und Drehen auf den Sachverstand und das Geschick der Kollegen in Spezialwerkstätten setzen, bastelt Alexe immer wieder eigenhändig an neuen Instrumenten: „In Rumänien haben wir fast alles selbst gebaut und dabei auch viel improvisiert.“

In der zweckentfremdeten Keksdose, in deren Wand Kabelanschlüsse eingelassen sind, hat Alexe gemessen, wie stark die Polarisation mit einer angelegten Spannung steigt und wie lange sie stabil bleibt, wenn die Spannung abfällt. Die Polarisation spiegelt wider, wie weit sich negative und positive Ionen in dem Kristallgitter auseinanderziehen lassen. Sie gibt also ein Maß für die Stärke der Dipole.

Die meisten anderen Apparate in seinem Labor dienen demselben Zweck, messen jedoch genauer und gewähren dem Forscher auch einen Einblick, wie sich Ferroelektrika etwa bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt oder in einem Magnetfeld verhalten. In manche hoch entwickelte Spezialapparatur integriert Alexe auch heute noch Keksdosen. Denn die Büchsen werden aus unmagnetischen Blechen fabriziert. Anders als der von Geräteentwicklern favorisierte Edelstahl schirmen sie unerwünschte Magnetfelder daher perfekt ab.

Lässt sich der Schaltprozess beschleunigen?

Bei vielen Problemen, die Marin Alexe und Dietrich Hesse untersuchen, hilft aber auch der Gerätepark in Alexes Labor nicht weiter. Etwa bei der Frage, wie genau ein ferroelektrischer Datenpunkt von der Null auf die Eins umschaltet oder umgekehrt. Information in ferroelektrischen Speichern zu überschreiben dauert derzeit nämlich noch zu lange, weil ihre winzigen Dipole nicht schnell genug umklappen, wenn eine äußere Spannung an ihnen zerrt. Um das zu ändern, wollen die Forscher in Halle den Umschaltprozess im Detail verstehen.

Mit Kollegen des Oak Ridge National Laboratory im US-amerikanischen Tennessee haben sie herausgefunden, dass der Umpolungsprozess stets an einem Punkt – genauer gesagt einem Defekt – einsetzt und sich von dort ausbreitet. Als Fehlstellen gelten kleine Störungen im Kristallgitter, eine Stufe auf der Oberfläche des Materials oder die Grenze, an der sich Domänen mit unterschiedlich orientierten Dipolen berühren. Solche Domänengrenzen gibt es zwar in einem einheitlich gepolten Datenpunkt nicht, sie entstehen aber zwangsläufig beim Umpolungsprozess – wenn sich der Bereich mit der neuen Dipolorientierung ausdehnt.

„Uns interessiert, wie in Nanokondensatoren die Domänen wachsen und welche Rolle dabei die Grenze zwischen zwei Domänen spielt“, sagt Marin Alexe. Auch in dieser Frage sind die Forscher inzwischen schon weiter gekommen. Als Modell haben sie ein Rechteck betrachtet, in dem alle Dipole ihr negatives Ende zur oberen Kante recken.

Nun legen die Forscher zwischen der unteren und oberen Kante eine Spannung an, die die Orientierung der Dipole ändern will. Daraufhin kippt zuerst ein Dipol an einem Defekt an der Oberfläche. Der gedrehte Dipol trifft nun mit seinem negativ geladenen Ende auf den negativen Pol des nächst unteren Dipols. Das ist energetisch ungünstig. Daher bildet sich eine Übergangszone, in der die Polarisierung abnimmt und dann mit umgekehrter Richtung wieder steigt. Diese Domänenwand ist parallel zur angelegten Spannung relativ dick, weil sie aufeinandertreffende Ladungen puffert. Und sie wandert in dieser Richtung auch ziemlich zügig durch das Material, weil sich der Ladungskonflikt so am besten lösen lässt.

Senkrecht zur angelegten Spannung begegnen sich die unterschiedlich geladenen Domänen an einer schmalen Grenze und es dauert viel länger, bis sich die neue Polarisierung in dieser Richtung durchsetzt. „Diese Beobachtung hat uns gezeigt, dass ferroelektrische Nanokondensatoren ganz anders umschalten als ausgedehnte Schichten oder Mikrostrukturen“, sagt Dietrich Hesse. In größeren Strukturen pflanzt sich eine neue Polarisierung nahezu von Anfang an in der gesamten Breite fort.

Den Mechanismus, wie eine Polarisierung mit der Zeit von einer Nanostruktur Besitz ergreift, haben die Forscher in einer mathematischen Formel beschrieben. Nachdem sie ihn live verfolgt hatten. Das Studio, in dem Marin Alexe und seine Kollegen den Umpolungsprozess filmen, liegt im Keller. In dem Labor stehen dicht nebeneinander drei Piezokraftmikrosksope. Eins haben die Forscher zum Schallschutz in eine schulterhohe, würfelförmige Metallkiste gepackt. Die Geräte produzieren reichlich Wärme. Eine Klimaanlage verbietet sich jedoch, weil ihr Luftzug die Messungen stören würde.

Der Blick auf jeden Dipol liefert ein genaues Bild

Marin Alexe setzt sich an einen Aufbau, der entfernt an ein optisches Mikroskop ohne Okular erinnert. Er bedient ein paar Schalter und Knöpfe, und mit einem kreischenden Geräusch fährt die Spitze des Mikroskops dicht an die Probe heran. Auf Befehl rastert sie nun die Oberfläche ab, sodass diese auf einem Bildschirm sichtbar wird. „Im Piezokraftmikroskop ist die Polarisierung einer Probe im Nanometerbereich zu erkennen und wie sie sich mit der Zeit verändert“, erklärt der Forscher. Die Mikroskope arbeiten ähnlich wie Rasterkraftmikroskope: Eine Spitze an einem biegsamen Hebel fährt über die Probenoberfläche. Jede Unebenheit bewegt den Hebel. Wie weit, wird über die Reflexion eines Laserstrahls registriert.

Doch wie lässt sich mit einem feinfühligen Finger für Buckel und Dellen in der Oberfläche die Orientierung elektrischer Dipole ertasten? Tatsächlich hebt oder senkt sich die Probenoberfläche auch, wenn sich die Dipole bilden, wenn sie umklappen oder wenn sie deformiert werden. Denn schließlich verzerrt sich mit der Polarisierung das Kristallgitter. Aber selbst ein Rasterkraftmikroskop registriert solche Höhenunterschiede nicht verlässlich, sie gehen im Rauschen unter.

Daher legen die Forscher an den Hebel eine Wechselspannung an und fühlen, mit welchem Puls der Kristall auf die Spannung reagiert. Piezokraftmikroskopie heißt die Methode, die ihnen die Dipolorientierung verrät. Das erste Rasterkraftmikroskop rüsteten die Forscher noch selbst für die Messungen um. „Es war schwierig, das richtige Kabel aus dem Gerät herauszuholen“, kommentiert Alexe den Umbau.

Ein Blick durch eines der drei Piezokraftmikroskope gehört heute zum Standardprogramm, wenn Marin Alexe und seine Kollegen Ferroelektrika untersuchen. Die Forscher erkennen darin aber immer noch nicht alles, was sie interessiert. Um den Umschaltprozess, die Ausbreitung umgepolter Domänen oder die Vorgänge in den Domänenwänden zu verstehen, brauchen sie noch mehr Details. Sie müssen eine Karte der Polarisierung zeichnen, auf der die Richtung und Stärke der Dipole in jeder einzelnen Elementarzelle, der kleinsten Baueinheit eines Kristall, eingezeichnet ist. Dafür müssen die Forscher die Position jedes einzelnen Atoms bestimmen.

Eine so klare Sicht erlaubt nur ein Transmissionselektronenmikroskop, und auch nur in einer Variante, die erst kürzlich neu entwickelt wurde und die Knut Urban und Chun-Lin Jia am Forschungszentrum Jülich besonders raffiniert einsetzen. Die von ihnen entwickelte Abbildungsmethode liefert extrem hoch aufgelöste, kontrastreiche Bilder und macht so auch Sauerstoffionen sichtbar, die den negativen Part der ferroelektrischen Dipole übernehmen. Auf diese Weise durchleuchteten die Jülicher Forscher eine Probe Bleizirkonattitanat aus dem halleschen Max-Planck-Institut und inspizierten dabei eine Grenze zwischen Domänen genau entgegengesetzter Polarisierung.

Erste Anwendungen in elektronischen Bahntickets

Ihr Blick für die Details bestätigte, was Marin Alexe und Dietrich Hesse schon vorher vermuteten: Die Dipole orientieren sich nicht nur auf- und abwärts; in einem Abschnitt der Grenze, an der sich die beiden Bereiche mit entgegengesetzter Dipolorientierung begegnen, entdeckten die Forscher eine weitere Domäne. Sie umfasste nur wenige Elementarzellen und ihre Dipole drehten sich Zelle für Zelle ein bisschen mehr, sodass sie mit den Dipolen in den beiden großen Nachbararealen einen Halbkreis schlossen. „Dass es eine kreisförmige Polarisierung gibt, hat man lange nicht für möglich gehalten, weil sich das Kristallgitter dabei kontinuierlich verformt“, sagt Marin Alexe. Solche schrittweisen Verzerrungen galten verglichen mit dem abrupten Aufeinandertreffen entgegengesetzter Ausrichtungen als energetisch ungünstig.

„Überrascht hat uns aber auch, dass es in sehr kleinen Domänen überhaupt noch eine Polarisierung gibt“, ergänzt Dietrich Hesse. Die Dipole stabilisieren sich in ihrer strengen Formation nämlich gegenseitig – wenn es genug von ihnen gibt. In einem Gebiet von wenigen Nanometern sollte die Zahl nicht reichen – so die Vermutung. Dass sich auch solche Domänen polarisieren lassen, ist eine gute Nachricht für die Speichertechnik. „Möglicherweise können wir ferroelektrische Datenpunkte auf 20, vielleicht sogar zehn Nanometer verkleinern“, sagt Dietrich Hesse. Darin orientieren sich die Dipole vermutlich zwar in einem Wirbel, für die Datenspeicherung wäre das aber kein Problem: Die Null und Eins eines Bits würden dann mit einer Polarisierung im oder gegen den Uhrzeigersinn codiert.

Ein großer Computerhersteller hat die Erkenntnis, wie weit sich ferroelektrische Datenpunkte schrumpfen lassen, vielleicht mit leichtem Bedauern zur Kenntnis genommen. Seine Forscher hatten nämlich zu Beginn der 1970er-Jahre berechnet, dass eine ferroelektrische Schicht mindestens 300 Nanometer dick sein muss, um sich polarisieren zu lassen. Zu dick, um als Speichermedium konkurrenzfähig zu sein. Das Unternehmen stellte die Forschung an den Materialien ein. Andere ließen sich nicht so schnell entmutigen. „Bis Ferroelektrika als Speicher in PCs genutzt werden vergehen vielleicht noch einige Jahre, aber von allen alternativen Speichermaterialien haben sie es bislang am weitesten gebracht“, sagt Dietrich Hesse. Denn inzwischen werden ferroelektrische Speicher industriell gefertigt und in Japan etwa in elektronischen Bahntickets verwendet.

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