Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Wissen Schimpansen, was andere sehen – oder nur wohin sie schauen?

Do chimpanzees know what others see – or only where they look?

Autoren
Tomasello, Michael; Call, Josep
Abteilungen
Vergleichende und Entwicklungspsychologie (Prof. Dr. (University of Georgia) Michael Tomasello), MPI für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
Zusammenfassung
Kürzlich durchgeführte Studien legen die Vermutung nahe, dass Affen wissen, was andere Individuen sehen und was sie nicht sehen. Um diese Ergebnisse zu deuten, könnte man individuell erlernte Verhaltensregeln annehmen, bei denen das Verstehen des Sehvorganges keine Rolle spielt. Allerdings greifen diese Ansätze sehr kurz und basieren nur auf Einzelstudien. Die Hypothese, dass Affen unter bestimmten Umständen tatsächlich wissen, was andere Individuen sehen und nicht sehen, ist wesentlich plausibler.
Summary
A variety of recent studies suggest that apes know what other individuals do and do not see. The results of may be explained by postulating some behavioral rule that individuals have learned that does not involve an understanding of seeing. The patchiness of coverage gives this kind of explanation an ad hoc feeling, especially since there is rarely any concrete evidence that animals actually have had the requisite experiences to learn the behavioral rule – there is just a theoretical possibility. Thus, it is more plausible to hypothesize that apes really do know what others do and do not see.

Natürliche Verhaltensweisen lassen sich auf vielfältige Weise interpretieren, vor allem, wenn die zugrunde liegenden kognitiven Prozesse bewertet werden sollen. Auf der einen Seite stehen die sogenannten Booster, Theoretiker, die annehmen, dass es zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Kognition keine wesentlichen Unterschiede gibt. Insbesondere in der Forschung über die soziale Kognition bei Primaten (theory of mind) gibt es Booster, die davon überzeugt sind, dass nichtmenschliche Primaten viel vom Bewusstseinszustand anderer Lebewesen verstehen. Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums stehen die sogenannten Scoffer – radikale Behavioristen, die der Ansicht sind, dass es unsinnig sei, überhaupt von kognitiven Prozessen zu sprechen.

In den vergangenen Jahren sind Daten gewonnen worden, die den Interpretationsspielraum erheblich einschränken. Der vorliegende Beitrag des Max-Planck-Institutes für evolutionäre Anthropologie beschäftigt sich mit diesen neuen Daten und vergleicht die Booster- und Scoffer-Theorien. Im Mittelpunkt steht die Frage, was Schimpansen darüber wissen, was andere sehen oder auch nicht sehen können.

Gaze-following

Eine Gruppe von Forschern um Michael Tomasello [1] führte die folgende Studie durch: Ein menschlicher Studienleiter (E) wartete, bis zwei Schimpansen im Raum so zueinander ausgerichtet waren, dass der eine (der Betrachter) in seine Richtung im Beobachtungsturm schaute und der andere (das Subjekt) in Richtung des Betrachters. E hielt dann einen Leckerbissen in die Höhe und veranlasste damit den Betrachter zu ihm hoch zu schauen, wobei er beobachtete, wie das Subjekt auf das Blickverhalten des Betrachters reagierte. In Kontrollbedingungen zeigte E den Leckerbissen auf die gleiche Art, war jedoch mit dem Subjekt allein. Ergebnis: Die Subjekte folgten den Blicken des Betrachters in Richtung Nahrung zuverlässig und weit häufiger als in den Kontrollbedingungen (Abb. 1). Wie andere Untersuchungen ergeben haben, folgen Schimpansen auch den Blicken von Menschen, und dies sogar nur anhand der Augenstellung und unabhängig von der Kopfstellung des Studienleiters [2].

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass sich Schimpansen nicht nur in die gleiche allgemeine Richtung wie der Betrachter wenden und dann mehr zufällig nach einem interessanten Objekt Ausschau halten, sondern dass sie das Ziel der Wahrnehmungsaktivität des Betrachters suchen – selbst wenn sie dabei an anderen neuen Objekten vorbeischauen und diese ignorieren müssen [3]. Darüber hinaus zeigte sich: Wenn erwachsene Schimpansen dem Blick eines anderen zu einem bestimmten Punkt folgen und dort nichts Interessantes finden, richten sie ihren Blick oft ein zweites Mal auf das Gesicht des anderen und korrigieren ihre Blickrichtung [4]. Dieses Rückversicherungsverhalten (checking back) legt nahe, dass das Subjekt in der Erwartung handelt, so die Wahrnehmungsorientierung des Betrachters auf ein bestimmtes Ziel hin herausfinden zu können [5].

Am aussagefähigsten aber dürfte eine Situation sein, in der ein menschlicher Studienleiter (E) hinter ein Hindernis schaut. Denn hier muss sich das Subjekt, wenn es dem Blick von E auf dessen Ziel folgen will, einige Meter fortbewegen, um einen geeigneten Sichtwinkel für den Blick hinter das Hindernis herzustellen. In einer weiteren Studie [3] taten die Schimpansen genau dies, und zwar weit öfter als in der Kontrollbedingung.

Die Booster-Interpretation dieser Ergebnisse lautet, dass Schimpansen der Blickrichtung anderer folgen und diese ein zweites Mal prüfen, wenn sie dort nichts finden, weil sie wissen wollen, was der andere sieht. Die Scoffer-Interpretation vermeidet die Aussage, dass das Subjekt weiß, dass der andere etwas sieht. Vielmehr seien Schimpansen biologisch prädestiniert, sich in dieselbe Richtung zu orientieren, in die sich ein anderes Individuum orientiert. Im Hinblick auf die Ergebnisse der Hindernisstudie müsste diese Prädisposition geometrisch sehr spezifisch sein. Ein zweiter Ansatz besagt, dass Individuen durch persönliche Erfahrung lernen, dass sie häufig etwas Interessantes oder Wichtiges finden können, wenn sie in dieselbe Richtung schauen wie ein anderes Individuum.

Futterkonkurrenz

In einer Studienreihe [6] wurden ein rangniederes und ein ranghöheres Tier in Räumen auf entgegengesetzten Seiten eines dritten Raums untergebracht. Beide Räume waren mit einem Fallschieber zum mittleren Raum ausgestattet, der den Tieren, wenn er einen Spaltbreit geöffnet wurde, den Blick auf zwei Leckerbissen an unterschiedlichen Stellen im Raum sowie auf das jeweils andere Tier gestattete, das unter seiner Tür hindurchschaute. Sobald die Leckerbissen im Raum platziert waren, wurden die Türen für beide Tiere geöffnet, sodass sie in den dritten Raum gelangen konnten. Das Problem des rangniederen Tieres in dieser Situation besteht darin, dass das ranghöhere Tier alles Futter, das es sehen kann, für sich beansprucht. In einigen Anordnungen war das Futter aber so platziert, dass das rangniedere Tier ein Futterstück sehen konnte, das für das ranghöhere Tier, beispielsweise wegen eines kleinen Hindernisses, nicht sichtbar war, während die anderen Stücke offen im Raum lagen (Abb. 2).

Die Frage war daher, ob das rangniedere Tier wusste, dass das ranghöhere Tier diesen bestimmten Teil des Futters nicht sehen konnte, und es daher ungefährdet nehmen konnte. Tatsächlich gingen in der Studie die rangniederen Tiere wesentlich öfter zu dem Stück Futter, das nur sie sehen konnten, als zu jenem, das für beide Tiere sichtbar im Raum lag. Eine Scoffer-Interpretation könnte lauten, dass die rangniederen Tiere in diesen Untersuchungen das Verhalten der ranghöheren Tiere beobachtet haben, statt auf deren Wahrnehmung des Futters zu reagieren. Diese Möglichkeit wurde jedoch in einer Reihe von Studien ausgeschlossen. So wurde der Fallschieber des ranghöheren Schimpansen geschlossen, bevor die beiden Futterkonkurrenten in den Raum gelassen wurden, sodass das rangniedere Tier das ranghöhere Tier in dem Moment, in dem es seine Wahl treffen musste, nicht sehen konnte und infolgedessen auch nicht auf dessen Verhalten reagieren konnte.

Eine weitere Scoffer-Interpretation ist die Hypothese des peripheren Fressverhaltens [7]. Danach werden rangniedere Tiere deshalb von dem Futter hinter einem Hindernis angezogen, weil sie generell die Futteraufnahme in der Nähe von Hindernissen der Futteraufnahme im offenen Gelände, wo sie von ranghöheren Tieren gesehen werden können, vorziehen. Forscher [6] überprüften diese Hypothese mit der gleichen Studienanordnung, doch nur mit einem Stück Futter, das hinter einem von zwei Hindernissen versteckt war. Variiert wurde, ob das ranghöhere Tier den Vorgang des Versteckens durch die teilweise geöffnete Tür verfolgen konnte oder nicht. Das rangniedere Tier konnte jeweils den vollständigen Vorgang und darüber hinaus den visuellen Zugang des ranghöheren Tieres zum Futter beobachten. Die rangniederen Tiere nahmen sich das Futter vorzugsweise dann, wenn das ranghöhere Tier den Versteckvorgang nicht gesehen hatte. Dies deutet darauf hin, dass sie nicht nur wussten, was andere in einem bestimmten Moment sehen und was nicht, sondern auch, was andere kurz zuvor gesehen haben. Da das Futter stets hinter einem der beiden Hindernisse versteckt wurde und der einzige Unterschied in den Studienbedingungen im visuellen Zugang des ranghöheren Tiers bestand, trifft die Hypothese vom peripheren Fressverhalten nicht zu.

Eine dritte Scoffer-Interpretation zur Futterkonkurrenz ist die Hypothese vom sogenannten bösen Blick (evil eye hypothesis). Vielleicht glauben rangniedere Tiere, dass Futter, das von einem ranghöheren Tier gesehen wurde, „kontaminiert“ und damit verboten ist, sobald der „böse Blick“ des ranghöheren Tieres einmal darauf gelegen hat. In einer Studie [6] konnten sowohl das ranghöhere als auch das rangniedere Tier sehen, wie das Futter hinter einem der beiden Hindernisse versteckt wurde. In einer weiteren Studienanordnung konnte nur das rangniedere Tier sehen, wie das Futter an einen neuen Platz gebracht wurde, während in einer anderen Anordnung beide den Vorgang verfolgen konnten. Die rangniederen Tiere holten sich das Futter dann, und nur dann, wenn sie allein die Ortsveränderung hatten beobachten können. Damit ist klar, dass sie nicht an einen „bösen Blick“ ranghöherer Tiere glauben.

Diese Studien beweisen, dass rangniedere Tiere wissen, was das ranghöhere Tier inhaltlich gesehen hat oder auch nicht gesehen hat, und dass sie dieses Wissen in ihrem Verhalten umsetzen. Natürlich können hier auch in der Vergangenheit erlernte Verhaltensweisen eine Rolle gespielt haben. Aber eine Konditionierung unter Einbeziehung von Kriterien wie der Ortsveränderung von Futter, nachdem das ranghöhere Tier beobachtet hatte, wie das Futter versteckt wurde, kann kaum zu den üblichen Erfahrungen im Leben von Schimpansen gerechnet werden und damit auch nicht zu den Dingen, die sie erlernt haben könnten.

Was verstehen Schimpansen also wirklich vom Sehen?

Schimpansen folgen den Blicken von Artgenossen und Menschen. Sie „rückversichern“ sich bei Menschen, wenn das gaze-following kein interessantes Objekt erschließt, und wählen angebotenes Futter in Abhängigkeit davon aus, ob der Futterkonkurrent das Futter ebenfalls sehen kann oder nicht. Diese Ergebnisse stützen die Booster-Hypothese, wonach Schimpansen ein gewisses Verständnis davon haben, was andere Individuen gesehen haben und was nicht.

Abbildung 3 zeigt, dass die Booster für ihr Interpretationsmodell erheblich weniger Hypothesen benötigen als die Scoffer. Inhaltlich betrachtet könnte man sagen, dass die Scoffer lediglich „einfache“ behavioristische Lernprinzipien postulieren, während die Booster verschiedene psychologische Gedankengebäude heranziehen müssen, und das möglicherweise zusätzlich zu den Prinzipien des Lernens.

Scoffer müssten bei Anwendung ihrer Lernhypothese auch eine Vielzahl hoch komplizierter Lernsituationen zugrunde legen (Abb. 3). Für keine dieser hypothetischen Lernsituationen gibt es aber einen Nachweis. Wäre es tatsächlich so, dass einzelne Schimpansen lernen könnten, Beziehungen zwischen dem Sehverhalten eines anderen Tieres in bestimmten Situationen und ihrem darauf folgenden Verhalten herzustellen, müssten einige der Tiere während der Studien selbst wesentliche Dinge erlernen können. Darauf gibt es allerdings in keiner Studie Hinweise.

Es ist ein theoretischer Irrtum, Lerntheorie und Kognitionstheorie als sich gegenseitig ausschließende Alternativen darzustellen. Die meisten der komplexen, anspruchsvollen und abstrakten kognitiven menschlichen Fähigkeiten wie das Beherrschen einer Sprache, Rechnen oder Lesen werden in langen Lernprozessen erworben. Betrachtet man das Lernen im Zusammenwirken mit anderen kognitiven Fähigkeiten, stellt sich die entscheidende Frage: Beruht der Lernprozess eines Lebewesens auf blinder Assoziation oder auf dem kausalen oder intentionalen Verstehen einer Situation? Im vorliegenden Fall ist es wahrscheinlich, dass Schimpansen in gewissem Umfang individuell erlernen, was andere Individuen sehen und nicht sehen können. Das heißt jedoch nicht, dass sie den Sehvorgang nicht verstehen.

Die Versuchsergebnisse beweisen, dass Schimpansen Sehvorgänge tatsächlich verstehen und die Booster-Position richtig ist. Das bedeutet allerdings nicht automatisch, dass Schimpansen auch andere psychologische Vorgänge verstehen. In dieser Situation bleibt aus wissenschaftlicher Sicht nur eins: Jeder einzelne psychologische Vorgang – Wahrnehmung, Absicht, Wünschen, Glauben usw. – muss untersucht werden, einzeln und mit der größtmöglichen Vielzahl von Methoden. Ob Schimpansen einen bestimmten psychologischen Vorgang verstehen, ist in jedem einzelnen Fall eine empirische Frage.

Originalveröffentlichungen

M. Tomasello, J. Call, B. Hare:
Five primate species follow the visual gaze of conspecifics.
Animal Behaviour 55: 1063–1069 (1998).
D.J. Povinelli, T.J. Eddy:
Chimpanzees: Joint visual attention.
Psychological Science 7: 129–135 (1996).
M. Tomasello, B. Hare, B. Agnetta:
Chimpanzees follow gaze direction geometrically.
Animal Behaviour 58: 769–777 (1999).
J. Call, B. Hare, M. Tomasello:
Chimpanzee gaze following in an object choice task.
Animal Cognition 1: 89–100 (1998).
E. Bates:
The emergence of symbols: Cognition and communication in infantry.
Academic Press, New York 1979.
B. Hare, J. Call, M. Tomasello:
Do chimpanzees know what conspecifics know?
Animal Behavior 61: 139–151 (2001).
D.J. Povinelli, S. Giambrone:
Reasoning about Beliefs: A Human Specialisation?
Child Development 72: 691–695 (2001).
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