Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Leben, Altern und Sterben: Ein Blick über die Artengrenzen

Life, aging, and dying: A review across species

Autoren
Schaible, Ralf; Rebke, Maren; Cassens, Insa; Scheuerlein, Alexander
Abteilungen
Zusammenfassung
Der Prozess des Alterns ist plastischer, als es allgemeine Vorstellungen und die klassische evolutionsbiologische Theorie des Alterns vermuten lassen. So gibt es in der Pflanzen- und Tierwelt zahlreiche Abweichungen: Arten, die niemals altern, und Arten, bei denen das Sterberisiko nicht kontinuierlich mit dem Alter ansteigt, sondern in bestimmten Lebensphasen wieder abfällt. Ihre Lebensstrategien geben Antworten auf die Frage, warum langes Leben möglich ist.
Summary
The process of aging is more plastic than is commonly assumed and stipulated by classical theory on the evolution of aging. Deviations abound across the tree of life: There are species that do not age, and species that escape a steady increase in mortality. In some species, mortality even declines in certain phases of life. An analysis of these species’ life-history strategies may answer the question: How is it possible to live long?

Wann das Ende des Lebens naht, ist von Art zu Art unterschiedlich: Die Eintagsfliege stirbt nach maximal sieben Tagen, Galapagosschildkröten können 180 Jahre alt werden, einige Muscheln überleben 370 Jahre und der Mammutbaum erreicht ein Alter von 1200 Jahren. Doch altern diese Arten auch? Und wie lässt sich dies messen? Aus wissenschaftlicher Sicht altern Organismen, wenn das Sterberisiko mit steigender Anzahl an Lebensjahren zunimmt. Erstaunlicherweise altern demnach kurzlebige Arten weniger als langlebige. So bedingen Raubfeinde oder widrige Umweltbedingungen, dass die Eintagsfliege einem sehr hohen Sterberisiko ausgesetzt ist, welches jedoch zeit ihres Lebens konstant bleibt: Eintagsfliegen sterben, bevor sie „alt“ werden. Der moderne Mensch gehört hingegen zu den langlebigen Arten. Sein Sterberisiko nimmt mit zunehmendem Alter so stark zu wie bei keinem anderen Lebewesen. Sichtbare physiologische Veränderungen zeigen das Altern im Verlauf des Lebens an. Dass die Sterblichkeit des Menschen insgesamt eher niedrig ist, liegt vermutlich auch an seiner – im Vergleich zu anderen Organismen – harmlosen und geschützten Umwelt. Evolutionsbiologen erwarten daher, dass auch kurzlebige Arten starkes Altern zeigen würden, wenn man sie in stabilen und sicheren Lebensräumen hielte, wie dies bei Zoo-, Haus- oder Labortieren der Fall ist.

Zelluläre Prozesse und Stoffwechselvorgänge sind dafür verantwortlich, dass Lebewesen altern. Die Gesundheit schwindet, der Organismus wird weniger funktionsfähig, das Sterberisiko steigt. Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass eine Vielzahl an Faktoren wie die Umwelt, die Gene und Erfahrungen bestimmen, wie lange Individuen leben und auf welche Weise sie altern. Zudem können dieselben Einflüsse in verschiedenen Phasen des Lebens sehr unterschiedliche Auswirkungen auf den Verlauf altersspezifischer Sterbemuster haben.

Altern scheint im Tier- und Pflanzenreich mehr die Regel als die Ausnahme zu sein. Von großem Interesse für die Wissenschaft sind daher Arten, die dem klassischen Sterblichkeitsmuster nicht entsprechen. So gilt der Süßwasserpolyp Hydra beispielsweise als langlebig, zeigt aber – selbst im geschützten Labor – keine Alterungserscheinungen. Aber auch andere, eher ungewöhnliche Lebensstrategien ziehen die Forscher in ihren Bann: Warum nimmt die Sterblichkeit beim Menschen in sehr hohem Alter wieder ab? Und welche Gründe sind dafür verantwortlich, dass bei bestimmten Vogelarten das Sterberisiko mit dem Erreichen der Geschlechtsreife nicht mehr ansteigt?

Stress als Lebenselixier – Umwelteinflüsse bestimmen das Potenzial für ein langes Leben

Alle Bemühungen, ein Altern bei dem Modellorganismus Hydra nachzuweisen, sind bislang gescheitert [1]. Auch die seit vier Jahren laufende Laborstudie am Max-Planck-Institut für demografische Forschung, bei der Wissenschaftler den Süßwasserpolypen Hydra magnipapillata unter konstant optimalen Bedingungen halten, bestätigt: Das Sterberisiko der Polypen wird mit der Zeit nicht größer, Hydra altert nicht.

Untersuchungen zur Langlebigkeit zeigen jedoch, dass eine optimale und konstante Umwelt auf Dauer nicht automatisch zur höchsten Vitalität führen muss. Es sind vielmehr schwankende, aber dabei nicht lebensbedrohliche Umweltbedingungen, die Leben erhalten und verlängern (Abb. 1). So schafft es Hydra nach kurzfristigen Stressereignissen, wie Temperaturschwankungen oder einem zeitlich begrenzten Nahrungsmangel, die Energie im Stoffwechsel effizienter zu nutzen. Die sich daraus ergebene höhere Stressresistenz offenbart sich bei erneut einsetzenden widrigen Bedingungen: „Stresserfahrene“ Polypen überleben deutlich länger, wenn ihnen die Nahrung gänzlich entzogen wird.

Ist die Lebensgrundlage – zum Beispiel durch ein langfristiges Absinken der Temperatur – dauerhaft gefährdet, beginnen Süßwasserpolypen unaufhörlich, Geschlechtszellen beziehungsweise Embryonen zu produzieren. Das Individuum vernachlässigt in diesem Fall die zur Erhaltung des eigenen Lebens notwendige Produktion von Körperzellen zugunsten von Dauerstadien: Es stirbt, gewährleistet aber den Fortbestand des individuellen Genoms.

Langlebigkeit durch Regeneration und stetiges Wachstum?

Lebewesen, die alt werden, aber auffällig wenig altern, haben häufig eins gemeinsam: Sie verfügen über ein hohes Maß an Regenerationsvermögen und wachsen – auch im Erwachsenenstadium – kontinuierlich weiter. Ihre Reproduktionsleistung steigt zudem mit zunehmender Größe an. Bäume sind klassische Vertreter dieser Lebensstrategie. Sie wachsen durch die stetige Teilung von Zelllinien, die in einer aus nur wenigen Zellschichten bestehenden Wachstumszone liegen. Diese wiederum ist von totem und vielschichtigem Holzgewebe umgeben. Gäbe es keine Schwerkraft, die dem Höhenwachstum eines Baumes beim Wasser- und Nährstofftransport physikalische Grenzen setzt, sowie keine Feuer und Stürme, könnte ein Baum im Prinzip unendlich alt werden und wachsen, ohne dabei zu altern. Es sind nur die wenigen Zellen in der Wachstumszone, die altern und absterben, sich aber immer wieder erneuern.

Kontinuierliches Wachstum ist nicht auf Pflanzen beschränkt, sondern lässt sich auch in der Tierwelt beobachten. So wird das Leben von Hydra – ähnlich dem eines Baumes – durch stetige Wachstums- und Regenerationsprozesse bestimmt. Steht dem Organismus ausreichend Nahrung zur Verfügung, so bildet sich zudem durch Knospung ein neues Individuum, welches genetisch identisch mit seiner „Mutter“ ist. Auch diese stetige Zunahme der Anzahl der Individuen kann als Wachstum begriffen werden. In Abhängigkeit von der Nahrungsmenge führt es nicht zu immer größer werdenden Individuen, sondern zu mehr Einzelindividuen mit identischem Genom (Abb. 2). Eine hohe Anzahl genetisch identischer Individuen verringert wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass das „individuelle Genom“ durch widrige Umweltbedingungen ausgelöscht wird.

Besonders erfahren oder besonders widerstandsfähig? Wie sich individuelle Eigenschaften auf die Sterblichkeit auswirken können

Das Fehlen jeglichen Alterns, so wie beim Süßwasserpolypen Hydra beschrieben, gehört sicherlich zu den Besonderheiten im Tierreich. Aber auch andere Sterblichkeitsverläufe werfen Fragen auf.

Der moderne Mensch beispielsweise altert nicht kontinuierlich. Für japanische Frauen heißt dies konkret, dass das Sterberisiko ab dem 30. Lebensjahr zunächst stark ansteigt. Etwa ab dem Alter von 90 Jahren verlangsamt sich der Anstieg, und bei den über 100-Jährigen bleibt die Sterblichkeit auf hohem Niveau konstant. Wie lässt sich dies erklären? Jeder Jahrgang ist zunächst stark durchmischt, es gibt eher gesunde und eher kranke Personen, mit besserer oder schwächerer Konstitution. Doch die Zusammensetzung ändert sich: Menschen mit hohem Sterberisiko sterben im Mittel früher als jene mit einer niedrigeren Sterbewahrscheinlichkeit. Die Gruppe der Hochbetagten setzt sich dann zunehmend aus solchen Personen zusammen, die sich durch besondere Widerstandsfähigkeit auszeichnen. Dies führt zu einer Abnahme der Sterbewahrscheinlichkeit und somit zu einer Abflachung der Mortalitätskurve im hohen Alter.

Bei bestimmten Vogelarten hingegen sinkt die Sterblichkeit nicht erst am Ende der Lebensspanne, sondern bereits im jungen Erwachsenenleben. So zeigt der Sperber (Accipiter nisus) für die Dauer einiger Jahre nach Einsetzen der Geschlechtsreife eine erhöhte Vitalität: Das Sterberisiko sinkt und die Fortpflanzungsrate steigt [2]. Ähnliche Beobachtungen treffen auch auf die Flussseeschwalbe (Sterna hirundo) zu, die im Mittel etwa zehn Jahre alt wird und damit zu den langlebigen Vogelarten zählt. Überleben – wie beim Menschen fürs hohe Alter beschrieben – in diesen Vogelpopulationen bereits zur Geschlechtsreife vor allem nur die widerstandsfähigsten Individuen, sodass die Sterbewahrscheinlichkeit insgesamt ab- und der Reproduktionserfolg zunimmt? Oder gibt es noch andere Erklärungsansätze? Aktuelle Untersuchungen am Max-Planck-Institut für demografische Forschung weisen individuellen Lern- und Entwicklungsprozessen nun eine zentrale Rolle zu: Flussseeschwalben können ihre Reproduktionsleistung unmittelbar nach Beginn der Geschlechtsreife offenbar deshalb steigern, weil sie sich mit zunehmendem Alter „verbessern“, das heißt im Mittel auf mehr Erfahrung zurückgreifen, Gelerntes einsetzen oder ihre Position im Sozialgefüge besser behaupten können. Unbeantwortet bleibt dabei zunächst, ob dies auch der Grund ist, warum sich das Sterberisiko bei Seeschwalben in dieser Lebensphase möglicherweise nicht erhöht, sie also nicht altern. Dies könnte eine der nächsten spannenden Forschungsfragen der Evolutionsdemografen in Rostock sein.

Originalveröffentlichungen

D. E. Martinez:
Mortality patterns suggest lack of senescence in hydra.
Experimental Gerontology 33(3), 217–225 (1998).
I. Newton, P. Rothery:
Senescence and reproductive value in sparrowhawks.
Ecology 78(4), 1000–1008 (1997).
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