„Man muss um die liberale Kultur in der Polizei kämpfen“

Die Polizei steht derzeit im Fokus öffentlicher Debatten. Auslöser waren zum einen die Angriffe randalierender Jugendlicher auf Polizisten in Stuttgart. Zum anderen hat die Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA auch in Deutschland die Frage nach Rassismus in der Polizeiarbeit aufgeworfen. Ralf Poscher, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg, erforscht rechtliche Aspekte der Polizeiarbeit. Im Interview spricht er über die unterschiedlichen Kulturen der Polizei in den USA und Deutschland, über Gewalt und Deeskalation und die Möglichkeiten, Diskriminierung vorzubeugen.

In den USA sind zwei schwarze Männer innerhalb kurzer Zeit von Polizisten offenbar grundlos getötet worden. Das hat zu massiven Protesten geführt. Auch in Stuttgart kam es in der vergangenen Woche zu Ausschreitungen gegen Polizisten. Sind die beiden Vorgänge vergleichbar?

Ralf Poscher: Nein, aus meiner Sicht nicht. Bei den Ereignissen in Stuttgart reden wir über offenbar ziellose Gewalt gegen die Polizei und in den USA über Proteste gegen fragwürdige Polizeiaktionen. Letztere sind völlig legitime Formen der politischen Auseinandersetzung, wenn sie friedlich verlaufen. Das muss die Polizei aushalten. Die Zustände in den USA sind auf beiden Seiten sehr anders als hier bei uns. Zum einen ist der Grad der Bewaffnung bei der Polizei und auch in der Bevölkerung sehr viel höher. Dort müssen die Polizisten immer mit Schusswaffengebrauch rechnen. Vor allem aber durchlaufen US-Polizisten eine sehr kurze Ausbildung, da läuft vieles wesentlich unprofessioneller.

Aber auch in Deutschland kommt es immer wieder zu Gewalt durch die Polizei.

Ja, zum Beispiel beim G-7-Gipfel in Hamburg. Da wollte man am Anfang die Rädelsführer festnehmen und das ist schiefgegangen. Aber selbst dann bleiben bei uns keine Menschen tot auf der Straße liegen.

Wo sehen Sie die Unterschiede im Polizeirecht?

In den USA sind Klagen gegen die Polizei kaum möglich. Es können häufig nur einzelne Polizeibeamte zur Rechenschaft gezogen werden, meist in Form von Schadensersatzklagen; da gibt es hohe Hürden. Das ist aber verständlich, denn der Schutz des Privatlebens eines Mitarbeiters vor Konsequenzen aus seiner beruflichen Tätigkeit sind auch sonst in der Arbeitswelt sehr hoch. In den USA kommt aber die sogenannte „Qualified Immunity“ dazu. Es reicht einem US-Gericht nicht aus, dass Polizei exzessiv Gewalt eingesetzt hat, sondern es muss auch bereits einen Präzedenzfall gegeben haben, in dem darüber geurteilt wurde, dass vergleichbare Gewalt klar rechtswidrig war. Dabei ziehen die Gerichte die Vergleichbarkeit der Fälle sehr eng, sodass sich selten ein Präzedenzfall findet. So kommen auch kaum neue Präzedenzfälle dazu. Deshalb wird die Polizei in den USA selbst bei offensichtlich exzessiver Gewalt nur selten zur Rechenschaft gezogen.

Wie ist das in Deutschland?

Ganz anders. Die Polizei kann für Einsätze über Verwaltungsgerichte sehr leicht verklagt werden. Auf diesem Weg kann dann auch jedes rechtswidrige Verhalten beanstandet werden. Wir haben dadurch eine wesentlich engere rechtliche Kontrolle über die Polizei. Weil wir die persönliche Verantwortlichkeit des Polizisten und die Verantwortung der Behörde deutlicher trennen.

Aber bleiben nicht viele Klagen dann doch ohne spürbare Folgen?

Bei der Einkesselung von Demonstranten im Jahr 1986 in Hamburg und bei den Exzessen zu Stuttgart 21 gab es sogar strafrechtliche Verurteilungen. Immer wenn es um Freiheitsentzug oder Körperverletzung im Amt geht, steht für die Beamten eine Menge auf dem Spiel. Auch wenn die Prozesse erst viele Jahre später stattfinden.

Ist diese rechtliche Bindung der Polizei eine Entwicklung der Bundesrepublik?

Das ist älter. Die Grundlagen wurden schon im 19. Jahrhundert im Kaiserreich gelegt. Damals hat das Bürgertum mit der Monarchie eine Art Kompromiss geschlossen: Die Bürger verzichteten auf Demokratie, erhielten aber den Rechtsstaat. Dieser Rechtsstaatsschutz wurde gerade auf dem Gebiet des Polizeirechts entwickelt. Das Preußische Oberverwaltungsgericht hat 1882 mit seinem Kreuzberg-Urteil einen Pflock eingeschlagen, als es feststellte, die Polizei sei nur zur Gefahrenabwehr da. Für alles andere braucht es eine besondere gesetzliche Grundlage. Ferner hat das Gericht die systematischen Bausteine für das Gefahrenabwehrrecht in seiner Rechtsprechung entwickelt. Noch in der Weimarer Republik entstand daraus das preußische Polizeiverwaltungsgesetz, das den Zuständigkeiten der Polizei Grenzen setzte. Im Nationalsozialismus wurden dann allerdings die Regeln, besonders die polizeilichen Generalklauseln von zum Teil den gleichen Juristen im nationalsozialistischen Sinn umgedeutet. Aber das Modell des preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes ist bis heute die Grundlage unseres Polizeirechts. Es galt in der DDR bis Ende der 1960er-Jahre, im Saarland sogar bis 1989.

Es gab aber auch martialische Polizeieinsätze, die Geschichte geschrieben haben: bei der Demonstration 1967 gegen den Besuch des Schahs, als Benno Ohnesorg erschossen wurde; bei den Protesten in den 1980er-Jahren gegen die Startbahn-West in Frankfurt und gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Heute scheint die Polizei allgemein mehr auf Deeskalation zu setzen. Ist auch das dem Polizeirecht geschuldet?

Das ist nur zum Teil eine rechtliche Entwicklung. Das Polizeirecht kam in den 1950er-Jahren verstärkt unter den Einfluss des Verfassungsrechts der Bundesrepublik. Zur Kaiserzeit sah die Polizei beispielsweise eine politische Versammlung eher als Störung der öffentlichen Ordnung. Aus dem Grundgesetz ergibt sich aber, dass es Aufgabe der Polizei ist, Versammlungen zu schützen und nur dann einzuschreiten, wenn Gefahren drohen. Ebenso wichtig ist aber ein kultureller Wandel, der sich mit dem Abgang einer alten Garde in der Polizei vollzogen hat, die noch im Nationalsozialismus tätig war. Seitdem haben sich verstärkt Deeskalationskonzepte durchgesetzt.

Das kam aus der Polizei selbst?

Zum Teil. Es war ja lange sehr umstritten. Ich kenne die Geschichte des ehemaligen Polizeipräsidenten aus Bonn. Der hatte sich Anfang der 1990er-Jahren in Politik und Justiz viele Feinde gemacht, weil er sich weigerte, den Schwarzen Block (Gruppe schwarz gekleideter radikaler Protestierender, Anm. d. Red.) mitten aus einer Demonstration heraus festzunehmen. Er wusste, wenn man da jetzt reingeht, gibt es Randale. Damals drohte ihm der Oberstaatsanwalt mit einer Klage wegen Strafvereitelung im Amt. Neue Strategien durchzusetzen, ging also immer mit harten Konflikten innerhalb der Behörden einher. Heute haben sie sich aber über die Ausbildung in der Polizei verbreitet.

Sie würden sagen, Deeskalation ist eine etablierte Strategie in der Polizei?

Ich glaube schon. Ich habe erlebt wie an der Hochschule der Polizei über den Einsatz damals im Stuttgarter Schlossgarten diskutiert wurde. Dort haben alle gesagt: „Was ist denn da im Einsatz schiefgegangen? Das ist ja wie in den 60er-Jahren.“ Zumindest unter den Führungskadern ist Deeskalation heute weitgehend akzeptiert.

Aber auch in der Deutschen Polizei gibt es Übergriffe bis hin zum Tod eines Mannes wie Oury Jalloh im Polizeigewahrsam. Kann man wirklich darauf vertrauen, dass die Polizeikultur solche mutmaßlichen Gewaltexzesse künftig unmöglich macht?

Die positiven Entwicklungen, die ich gerade beschrieben habe, sind Teilerrungenschaften, die bei einer so großen Organisation leider nicht an jeder Stelle greifen. Die deeskalierende Linie muss, glaube ich, bei jeder Polizistengeneration neu erkämpft werden. Aber es gibt auch immer gegenläufige Tendenzen. Etwa das Strategiepapier des nordrhein-westfälischen Innenministers, in dem es heißt, die Polizei müsste wieder „robuster“ werden. Das könnten manche Beamte missverstehen, wieder mehr Gewalt anzuwenden. Das sind falsche Anreize, bei denen man immer wieder um die liberale Kultur kämpfen muss.

Ein großer Kritikpunkt an der Polizeiarbeit ist ja Racial Profiling, also die Kontrolle von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, was Polizeibeamte immer mit ihren Erfahrungswerten rechtfertigen.

Da zum Beispiel muss man noch einmal intensiver über juristische Leitplanken nachdenken. Wir wissen ja, dass Kriminalstatistiken auch dadurch verzerrt werden, dass man bestimmte Bevölkerungsgruppen genauer unter die Lupe nimmt als andere. Welche rechtlichen Konsequenzen zieht man aus solchen Phänomenen? Das sind Themen, die wir derzeit in dem Projekt „Zu Recht“ zusammen mit der Mercatorstiftung näher untersuchen.

Welche Ansätze haben Sie dazu in Ihren Projekten?

Wir sind gerade dabei, die interkulturellen Trainings der Polizei zu evaluieren und zu klären, ob vielleicht Vorgaben von älteren Kollegen im täglichen Dienst viel prägender sind. Dienstrechtlich untersuchen wir, welche Personen es überhaupt in den Polizeidienst schaffen und ob man Eignungskriterien so anpassen kann, dass dort mehr Menschen mit Migrationshintergrund eine bessere Chance haben.

Welche Fragen untersuchen Sie noch?

Eine andere wissenschaftliche Arbeit nimmt Diskriminierungserfahrungen mit der Polizei unter die Lupe, die damit zu tun haben, dass sich jemand nicht verstanden fühlt und sich nicht in der deutschen Sprache verständlich machen kann. Da gibt es Feldversuche mit Übersetzungs-Apps.

Werden Sie von der Polizei bei diesen Untersuchungen unterstützt?

Ja, und das ist nicht selbstverständlich. Es gibt ein hohes Interesse etwa bei der Deutschen Hochschule der Polizei an diesen Fragen, die mit uns in dem Projekt kooperiert. Ein riesiger Unterschied zu den USA, in denen die Ausbildung zum Teil nur einige Wochen dauert, ist, dass der Beruf des Polizisten in Deutschland inzwischen fast durchakademisiert ist. Man kann in vielen Bundesländern nur noch Polizeibeamter werden, wenn man mindestens eine Fachhochschule absolviert hat. Ob das immer sinnvoll ist, ist die andere Frage. Aber es zeigt den Stellenwert der Ausbildung, der sich dann natürlich auch in den taktischen, kommunikativen, psychologischen und juristischen Fähigkeiten der Beamten niederschlägt.

Interview: Benno Stieber

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