Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

Nationaler Zusammenhalt in schwachen Staaten

National unity in weak states

Autoren
Knörr, Jacqueline
Abteilungen
Integration und Konflikt (Schlee)
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle/Saale
Zusammenfassung
Gemeinhin werden sogenannte schwache Staaten insbesondere in der postkolonialen Welt mit schwachem nationalen Zusammenhalt in Verbindung gebracht. Eine Forschergruppe am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung hat belegt, dass nationale Identitäten in schwachen Staaten oft stärker ausgeprägt sind, als gemeinhin suggeriert wird. Sie können dort maßgeblich dazu beitragen, Konflikte zu regulieren sowie den Prozessen sozialer Reintegration und Versöhnung in postkonfliktären Situationen zum gesellschaftlichen Durchbruch zu verhelfen.
Summary
Generally, so-called weak states are associated with weak national unity, especially in the postcolonial world. Researchers at the Max Planck Institute for Social Anthropology have shown that national identities are often much more developed in weak states than generally suggested. Moreover, these national identities can significantly contribute to conflict regulation and foster societal acceptance of processes of post-conflict reintegration and reconciliation.

Nationale Einheit versus ethnische Diversität?

Nationale Identität wird in der gesamten Region der Oberen Guineaküste in gesellschaftlichen Kontexten konstruiert, die in hohem Maße durch ethnische, sprachliche, kulturelle und religiöse Diversität geprägt sind. Ausgehend vom europäischen Modell der Nation als Einheit von Volk, Territorium und Staat legten ältere Modernisierungstheorien nahe, dass ethnische Identitäten infolge nationalstaatlicher Strukturen zunehmend durch gemeinsame nationale Identitäten abgelöst würden. Sobald sich postkoloniale Nationalstaaten etabliert hätten, so die These, würden (auch) unter den postkolonialen Subjekten ethnische und lokale Identifikationen an Bedeutung verlieren. Es ist kein Geheimnis, dass diese Voraussage so nicht eingetreten ist. Ethnische Zugehörigkeiten haben – in schwachen und weniger schwachen Staaten – selten an Bedeutung verloren, und das vermeintliche Scheitern des (afrikanischen) Nationalstaates wurde in der Folge nicht zuletzt mit dem „tribalen Imperativ“ [1] und mit der Künstlichkeit der durch die Kolonialmächte gezogenen Grenzen begründet.

Dass ethnische Loyalitäten im Prozess der Nationenbildung als Störfeuer angesehen werden, hat auch damit zu tun, dass sie häufig als Ursache von Konflikten und Kriegen interpretiert werden. Untersuchungen zeigen jedoch, dass ethnische Identitäten zwar in vielerlei Hinsicht instrumentalisiert werden, um (wechselnde) Allianzen in Interessenkonflikten zu schmieden, sie selbst aber nicht Ursache von Konflikten sind [2].

Folgt man einer „Bottom-up“-Perspektive auf die Nation, stellt man fest, dass die Bewahrung ethnischer Identitäten die Entstehung nationaler Identität keinesfalls verhindern muss. In postkolonialen Gesellschaften mit ethnisch heterogenen Bevölkerungen werden nationale Identitäten jedoch häufig ganz anders konstruiert und konstituiert, als es das europäische Modell des (postkolonialen) Nationalstaates vorsieht [3]. So werden ethnische Identitäten im Verhältnis zur nationalen Identität nicht als Hindernisse verstanden, sondern als deren notwendige Bestandteile. Nationale Identität benötigt demnach einerseits ethnische Wurzeln, aus denen sie sich nährt, und bietet andererseits einen Bezugsrahmen, in dem ethnische Diversität mit dem Nationalen verknüpft wird. Ethnische Diversität und nationale Gemeinsamkeit können also auch als einander wechselseitig konstituierend aufgefasst werden.

Ob dies der Fall ist oder ob ethnische Diversität und nationale Einheit in Opposition zueinander stehen, hängt maßgeblich von transethnischen Gemeinsamkeiten ab, die als Basis nationaler Identität fungieren können. Wesentlich hierfür sind in der Region der Oberen Guineaküste Gemeinsamkeiten hinsichtlich der historischen Erfahrungen sowie sprachliche und kulturelle Merkmale.

Gemeinsame historische Erfahrungen

Eine wichtige Rolle für die Konstruktion nationaler Verbindlichkeit spielen Narrative – in Teilen oder der Gesamtheit der Bevölkerung verbreitete Erzählungen –, die sich auf die gemeinsame historische Erfahrung des Unabhängigkeitskampfes und die frühe postkoloniale Zeit beziehen. So wird in Guinea-Bissau bis heute mit Stolz auf Amilcar Cabral und auf den unter seiner Führung erfolgten Unabhängigkeitskampf verwiesen [4]. Cabral gilt bis heute als Gründer der guinea-bissauischen Nation, welcher der „Teile-und-herrsche“-Politik der portugiesischen Kolonialherrschaft ein Ende bereitet und dafür gesorgt habe, dass ethnische Spaltungen überwunden wurden (Abb. 1).

Auch in der Bevölkerung Guineas ist eine ausgeprägte nationale Identifikation zu beobachten, die mit der errungenen Unabhängigkeit von Frankreich und der frühen postkolonialen Zeit begründet wird. So wird die Verknüpfung von ethnischer und nationaler Identität bis heute mit dem Staatsgründer Sékou Touré verknüpft, der die Vereinigung aller Afrikaner propagierte und Guinea als deren Ausgangspunkt verkündete. Im nationalen Diskurs der Bevölkerung wird allerdings ebenso auf das gemeinsam erfahrene Leid unter Sékou Touré und seinem Nachfolger Lansana Conté verwiesen [5]. Nationale Identität wurde so bis in die jüngste Vergangenheit hinein sowohl mit Verweis auf die einigenden Kräfte der frühen postkoloniale Zeit konstruiert, als auch mit der Erfahrung gemeinsamer Unterdrückung durch den Staat begründet.

Ob Konflikte eskalieren oder nicht, hängt auch vom nationalen Zusammenhalt in der Bevölkerung ab, dieser jedoch nicht in erster Linie von der vermeintlichen Stärke oder Schwäche des betreffenden Staates. Ein Vergleich zwischen Guinea, Guinea-Bissau und dem Senegal auf der einen sowie Liberia und Sierra Leone auf der anderen Seite macht deutlich, dass ähnliche Konfliktlagen – patrimoniale Strukturen, ökonomische Krisen, soziale Ungleichheit und Korruption – zu langen und gegen die eigene Bevölkerung gerichteten Rebellionen und Bürgerkriegen in Sierra Leone und Liberia führten. Hingegen eskalierten die Konflikte in Guinea, Guinea-Bissau und im Senegal (Casamance) nicht annähernd so heftig, und Konfliktlinien verliefen primär zwischen dem Staat auf der einen und der Nation oder bestimmten Gruppen auf der anderen Seite [6]. So kämpfen militante Guerillas seit 1982 für die Unabhängigkeit der Casamance, ohne dass dieser Konflikt in einen Krieg umgeschlagen wäre. Das Unabhängigkeitsbegehren lässt sich nicht mit ethnischen Unterschieden der dort ansässigen Mehrheitsbevölkerung (Diola) erklären, sondern mit der regionalen Isolierung vom „Rest“ Senegals – also mit einem spezifisch regionalen Mangel an nationaler Zugehörigkeit –, die mit Unterschieden bezüglich der sozialen Gegebenheiten und historischen Erfahrung verbunden ist (Abb. 2).

Sowohl in Liberia als auch in Sierra Leone wird seitens der Bevölkerung eine wenig entwickelte nationale Identität beklagt und häufig auf Guinea als ein Vorbild verwiesen. Dieser „Mangel“ an nationaler Identifikation in Sierra Leone und Liberia hat unter anderem spezifische historische Gründe. So wurde Liberia in politischer und ökonomischer Hinsicht lange von den sogenannten Americo-Liberians dominiert, während in Sierra Leone Kreolen (Krios) und ihre Verbündeten in Freetown eine einflussreiche Elite bildeten. Dies trug zu einer sich vertiefenden Kluft zwischen Freetown auf der einen und dem Rest des Landes auf der anderen Seite bei. Sowohl Americo-Liberians als auch Krios sind aus verschiedenen Gruppen befreiter Sklaven hervorgegangen, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in Liberia und Sierra Leone angesiedelt wurden. Die Verknüpfung des Nationalen mit unzureichend als indigen gekennzeichneten Eliten hat in beiden Ländern Anteil an der geringen Ausprägung einer transethnisch verbindenden nationalen Identität.

Insbesondere in Sierra Leone lässt sich im Prozess der gesellschaftlichen Reintegration seit Ende des Krieges 2002 beobachten, dass kreolische Identität und Sprache aufgewertet wird [7]. Diese Aufwertung findet im Rahmen eines Diskurses statt, der sowohl auf deren heterogene Wurzeln als auch einheimische – also nationale, sierraleonische – Dimensionen verweist und diese mit der als modern und fortschrittlich angesehenen kreolischen Lebensweise verknüpft. Damit positioniert sich dieser auf nationaler Ebene stattfindende Diskurs auch in Opposition zu jenen Anteilen einheimischer Tradition – insbesondere patrimoniale, gerontokratische und patriarchale Strukturen –, die infolge des Bürgerkrieges von vielen Menschen als überholt und destruktiv erachtet werden. Insbesondere kreolische und andere intermediäre Gruppen können also je nach ihrer gesellschaftlichen Positionierung und je nachdem, welcher Identitätsanteil in den Vordergrund gerückt wird, hinsichtlich des nationalen Zusammenhalts sowohl konfliktauslösende und spaltende, als auch integrative Wirkung haben – Unterschiede übrigens, die nur als Ergebnis vergleichender Forschung hervortreten (Abb. 3).

Sprache und Kultur

Eine große Bedeutung für den nationalen Zusammenhalt in der Region haben transethnisch verbindende Sprachen, sogenannte Linguae Francae, die von großen Bevölkerungsmehrheiten, oft neben den jeweils „eigenen“ ethnischen Sprachen, gesprochen werden. An der Oberen Guineaküste sind dies häufig Kreolsprachen, die sich im Zuge der Ansiedlung befreiter Sklaven und als Folge der Entstehung afrikanisch-europäischer Bevölkerungsgruppen verbreitet haben.

Auch traditionelle Geheimgesellschaften spielen in weiten Teilen der Region – insbesondere in Sierra Leone und Liberia – eine wichtige Rolle für die interethnischen Beziehungen und die Konstruktion transethnischer und nationaler Identität. Diese Geheimgesellschaften sind nach Geschlecht, nicht nach ethnischer Zugehörigkeit organisiert und können so gemeinsame Identität schaffen, die sich besonders aus der gemeinsamen Erfahrung der Initiation in die jeweilige Geheimgesellschaft nährt. Auch von den Angehörigen städtischer und „jüngerer“ Geheimgesellschaften wird ethnische und religiöse Diversität der Mitgliedschaft betont und mit der Förderung nationaler Identität und Versöhnung der ehemaligen Konfliktparteien in Verbindung gebracht. In Guinea-Bissau sind es besonders die sogenannten Manjuandadis, primär weibliche Institutionen gegenseitiger Solidarität, sowie der Karneval, die als einst kreolische Institutionen im Zuge der propagierten nationalen Einheit im ganzen Land verbreitet wurden und heute als Teil der nationalen Kultur betrachtet und zelebriert werden.

P. Chabal:
The African crisis: Context and interpretation.
In: Postcolonial Identities in Africa. (Eds.) R. Werbner, T. Ranger. Zed Books, London & New Jersey 1996, 29–54.
G. Schlee:
Identitätskonstruktionen und Parteinahme.
Sociologus 10 (1), 64–89 (2000).
J.-F. Bayart:
The state in Africa: The politics of the belly.
Longman, London & New York 1993.
C. Lopes:
Guinea-Bissau: From liberation struggle to independent statehood.
Zed Books, London 1987.
C. K. Højbjerg:
Resisting state iconoclasm among the Loma of Guinea.
Carolina Academic Press, Durham, NC, 2007.
M. C. Lambert:
Violence and the war of words: Ethnicity versus nationalism in the Casamance.
Africa: Journal of the International African Institute 68 (4), 585–602 (1998).
J. Knörr, W. Trajano Filho:
The powerful presence of the past: Integration and conflict along the Upper Guinea Coast.
Brill, Leiden 2010.
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